Das gemeinsame Europa brauche Visionen und Personen, die über den Alltag hinaus Politik machten - wie die Gründerväter Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Man dürfe sich nicht mit so genannten realistischen Möglichkeiten begnügen. Denn "die Visionäre sind die wahren Realisten", wie die europäische Entwicklung seit den Umbrüchen im Jahr 1989 gezeigt habe. An diese Formeln hat der deutsche Altkanzler und Vater der Wiedervereinigung, Helmut Kohl, immer wieder erinnert. Und Kohl war es auch, der in einer Rede zur Eröffnung des "Politischen Gesprächs" beim Forum Alpbach am Sonntag diese Grundformeln europäischer Politik ins Zentrum rückte und dazu aufrief, "nicht in Pessimismus zu verfallen". Das sei "angesichts der Erfolge in den vergangenen Jahrzehnten" beim Ausgleich zwischen den europäischen Nationen völlig unangebracht. Kohl nützte seinen ersten öffentlichen Auftritt nach dem Freitod seiner Ehefrau Hannelore zum Ziehen eines großen historischen Bogens über die Geschichte. Auch wenn jüngere Generationen, "zwei Drittel, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Untergang Hitler-Deutschlands geboren ist", es nicht mehr hören wollten: Es müsse daran erinnert werden an die Fundamente der Union, das Schaffen von Freiheit, Frieden und Wohlstand. Mit dem Euro sei die Einigung Europas unumkehrbar geworden. "Das größte Problem ist, dass wir uns über die Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt nicht wirklich freuen. Wir tun uns zu oft leid über diese und jene Änderung, sehen aber nicht die Chancen, die die europäische Einigung uns allen bringt", sagte Forum-Präsident Erhard Busek zum STANDARD. Für die jüngere Generation werde es selbstverständlich sein, dass es keine Grenzen mehr gibt, sagte Busek in seiner Eröffnungsrede. Um die Sorgen der Älteren, "die nicht mehr mitkönnen", müsse man sich stärker annehmen. Ziel der Europawoche müsse es sein, die wirklich wichtigen Dinge, wie eine europäische Verfassung oder die Verantwortung für den ganzen Kontinent zu diskutieren. Nach Kohls Rede debattierten Außenministerin Benita Ferrero-Waldner mit dem derzeitigen EU-Ratspräsidenten Louis Michel, dem slowenischen Außenminister Dimitrij Rupel und Polens Wladislaw Brtoszewski sowie Liechtensteins Premierminister Otmar Hasler zum Thema "Vision Europa". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 8. 2001)