Mit seinem neuen Roman "Baudolino" kehrt der italienische Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco erstmals ins Mittelalter zurück, in dem er mit "Der Name der Rose" Erfolge feierte. Diesmal erzählt er die Irrfahrten eines piemontesischen Fabulierers im Europa zu Zeiten Friedrich Barbarossas, das heute, so Eco im Gespräch mit Tobias Eisermann , sehr aktuell anmutet. Standard: Wenn man einige Ihrer Essays kennt, jenseits vom Roman Der Name der Rose, konnte man sich gut vorstellen, dass Sie früher oder später zum Mittelalter zurückkehren würden, nicht wahr?

Eco: Schon, aber ursprünglich sollte die Geschichte von Baudolino in der heutigen Zeit angesiedelt sein. Ich dachte an ein paar Journalisten, die eine Zeitung gründen und Sensationsmeldungen erfinden.

Dann fragte ich mich: Welches war die unglaublichste Sensationsmeldung und vielleicht auch interessanteste Fälschung der Geschichte? Der Brief des so genannten Priesterkönigs Johannes: Ein obskures Dokument, das in 220 verschiedenen Handschriften überliefert ist und von einem wunderbaren, im Osten liegenden Reich voll Fabelwesen erzählt, die das gesamte Mittelalter faszinierten. Dann wurde mir klar, dass dieser Brief in der Regierungszeit von Kaiser Friedrich Barbarossa auftauchte. In die gleichen Jahre fällt auch die Gründung meiner Heimatstadt Alessandria im Piemont.

STANDARD: Sie wollten diese Dinge, die Sie interessierten, miteinander verknüpfen?

Eco: Genau. Den Brief des Priesters Johannes mit der Möglichkeit einer Reise in einen geheimnisvollen Orient und andererseits die bäuerlich-wirklichkeitsnahe Welt meiner Heimatregion. Dabei ist dann diese Geschichte herausgekommen, die im Grunde in der ersten Hälfte von einem Abendland erzählt, das sich einen mysteriösen Orient erträumt, und dann von einem überhaupt nicht mysteriösen Orient, der sich ein mysteriöses Abendland erträumt.

STANDARD: Dieser Aspekt der perspektivischen Wahrnehmung ist ein zentraler Punkt des Buches. Es geht dabei auch um das Problem der Wahrheit. Baudolino, die Titelfigur, sagt: "Alles, was ich sage, ist wahr. Weil ich es sage."

Eco: Wenn jemand einen Roman schreibt, dann gilt für ihn nur ein einziges Wahrheitskonzept, und zwar dasjenige der Erzählhaltung, die erzählerische Wahrheit. Ich erzähle hier die Geschichte eines Lügners. Jedoch eines Lügners, der sich großartige Gründermythen erfindet. Daher geht es nicht mehr um eine Geschichte der Lüge, sondern, wenn Sie so wollen, um eine Geschichte der Utopie.
STANDARD: Wie lösen Sie da das Problem der Erzählhaltung?

Eco: Wenn Baudolino selbst die Geschichte erzählen würde, wäre die Wahrheit immer seine gewesen. Hätte ich sie in der dritten Person geschrieben, wäre die Wahrheit immer diejenige des Erzählers. Ich habe also die Erzählungen Baudolinos und des Geschichtsschreibers Niketa zusammengefügt, und der Erzähler bildet sie einfach nur ab, wie ein Fotograf. Der Leser ist sich genau wie Niketa nie sicher, ob Baudolino die Wahrheit berichtet oder etwas erfindet. Es wird ihm klar, dass Baudolino sein ganzes Leben einen Traum verfolgt, den er selbst konstruiert hat.

Am Ende ist Baudolino sechzig Jahre alt und steigt nach zahlreichen Schicksalswendungen noch einmal aufs Pferd, um sich erneut auf die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs zu machen, das er selbst erfunden hat. Angesichts dieses Selbstvertrauens wird mithin das Problem von Wahrheit und Lüge sekundär.

STANDARD: Woher kommt es, dass Sie das Hochmittelalter so gerne als Folie auch für aktuelle Konflikte beschreiben?

Eco: Ich habe einmal einen Aufsatz geschrieben, Unterwegs zu einem neuen Mittelalter. Aber ich könnte auch einen Essay schreiben über die Parallelen zwischen unserer Zeit und dem Zeitalter der Neandertaler. Denn wenn man Parallelen finden will, dann findet man sie überall.

STANDARD: Da gibt es doch Unterschiede?

Eco: Natürlich. Zweifellos entstand im Mittelalter Europa. Unser Europa, mit seinen Sprachen und politischen Strukturen. Insbesondere im Italien des Mittelalters ent-stand der moderne Kapitalismus mit den wirtschaftlichen Zentren und dem Bankensystem. Viele heutige Probleme haben dort ihren Ursprung. Das Mittelalter wiederzulesen, wie es etwa der französische Historiker Jacques LeGoff tat, heißt, Europa heute besser zu verstehen. Letztlich beruft sich auch die EU auf den mittelalterlichen Traum eines vereinten Europas. Ohne Kaiser, aber mit der Sprachenvielfalt, die damals entstand.

STANDARD: Das ist ja in Baudolino ein ganz wichtiger Punkt.

Eco: Unbedingt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Entstehung der europäischen Sprachen im Mittelalter mit Sicherheit die wichtigste Entwicklung der letzten zweitausend Jahre darstellt. Die Entstehung der europäischen Sprachen, des Deutschen, des Französischen, des Spanischen - ein Ereignis von zyklopischen Ausmaßen! Vergleichbar nur mit dem Erlangen der aufrechten Haltung des Menschen, als er von den Bäumen herabstieg, oder der Begründung der griechischen Polis. Damals entstand unser heutiges Europa, einerseits als eigenes Konzept, andererseits als Fragmentarisierung der Sprachen, der Kulturen.

Somit ist jede erneute Lektüre des Mittelalters auch immer wieder zeitgenössisch. Ich habe viel gelesen über die Regierungszeit von Friedrich Barbarossa, und mir fiel auf: Was haben wir als Schulkinder in Italien gelernt? Dass da ein böser Herrscher war und lauter gute italienische Städte, die sich zur Befreiungsschlacht gegen ihn vereinigten. Das ist natürlich Quatsch.

Diese italienischen Kommunen zerfleischten sich gegenseitig; sie verbündeten sich mit dem Kaiser und gegen ihn. Wegjagen konnten sie ihn nicht, denn es bedurfte für sie des einigenden Faktors.

STANDARD: Was war denn dieser Kaiser für ein Mensch?

Eco: Friedrich Barbarossa war ein Verrückter (lacht), der Italien wie wahnsinnig liebte. Jedes Jahr riskierte er aufs Neue, Deutschland zu verlieren, nur um sein Italien zu halten. Sicherlich war er auch eine pathetische Figur, jemand, der die neue soziopolitische Situation nicht begriff: Die Entstehung der Handelsstädte, das Ende der Feudalaristokratie und die Geburt des frühen Wirtschaftsbürgertums. Das sind alles Probleme, mit denen wir uns heute auch wieder konfrontiert sehen.

STANDARD: Konstantinopel damals erscheint in Ihrem Buch wie Washington heute.

Eco: Auch das ist ein konstantes Phänomen. Es hat immer Nabel der Welt gegeben.

STANDARD: Nun gibt es allerdings auch Unterschiede zur Situation im Europa um 1200?

Eco: Selbstverständlich, aber unser Verhalten als Europäer heute ähnelt doch sehr dem der italienischen Städte von damals. Sicher, sie wollten gegen Barbarossa rebellieren; aber sie konnten sich nicht erlauben, ihn zu vernichten. So wollen alle heute, dass Bush das Protokoll von Kioto unterschreibt. Aber . . .

STANDARD: Sie ironisieren gerne. Zugleich nehmen Sie die Dinge doch sehr ernst. Könnte man sagen, dass Sie den Gegensatz "ernsthaft - nicht ernsthaft" hinterfragen?

Eco: Was ist die Definition von Ironie? Nicht nur, das Gegenteil von dem zu sagen, was wahr ist. Sondern das Gegenteil von dem, was Sie, die Sie mir zuhören, für wahr halten. Denn wenn Sie nicht an etwas glauben würden, könnten Sie meine Ironie gar nicht erfassen. Der Witz und die Ironie umfassen vier Standpunkte. Das, was ich sage. Das, was ich für wahr halte. Das, von dem ich glaube, dass Sie es für wahr halten. Und das, was Sie für wahr halten. Mithin legt die Ironie auf dramatische Weise das Problem der Interpretation von Wahrheit bloß.


(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25. 8. 2001)