Musik
Tagtraum mit sterbendem Schwan
Björk erzählt von ihrem neuen Album "Vespertine" und den Freuden des Privatlebens
Paris - „Popmusik“, so Björk,
„also Volksmusik, die geschrieben wird, um uns allen
durch den Tag zu helfen, ist
sehr leicht herzustellen. Man
braucht etwa nur ein selten
gehörtes Instrument wie die
Ukulele in einem Song einzusetzen: Automatisch stellen
sich magische Momente ein.
Wenn man allerdings als
Ausgangsmaterial die digitalen Alltagsgeräusche nimmt,
denen heute jeder Mensch
ununterbrochen ausgesetzt
ist, und damit künstlerisch
umgeht, dann ist das weder
abgehoben noch exzentrisch,
sondern ,down to earth‘. Außerdem ist es natürlich eine
größere Herausforderung und
hat mehr mit der Gegenwart
zu tun als Musik, die traditionell erzeugt wird.“
Dass die wahre Haus-, also
Gebrauchsmusik heute nicht
mehr auf Flöte, Gitarre oder
Akkordeon gemacht wird,
sondern aus der Faxmaschine,
dem Handy oder dem Computer kommt, steht für Björk jedenfalls fest. Und wenn man
Musik in ihrer umfassendsten
Bedeutung als „absichtsvolle
Organisation von Schallereignissen“ definiert, die neben
den altbewährten Tönen im
elektronischen Zeitalter heute
längst gleichwertig Geräusche
beinhaltet, dann wird sie im
neuen Jahrtausend heute eher
mit dem Joystick, der Fernbedienung und der Computertastatur gemacht. Klick, klack,
Übertragungsfehler, zisch,
brutzel. Die Diskette scharf anbraten und mehrmals im
Laufwerk wenden. Heiß servieren. Pop wird schnell kalt.
Auf Björks neuem Album
Vespertine
heißt es einmal
treffend: „It’s not up to you, if
you leave it alone / It might just
happen anyway.“ Den Dingen
im Laufwerk ihren Lauf lassen. Es ganz ruhig angehen.
Am Ende bloß den Alltag filtern, selektive Wahrnehmungen verdichten und daraus
dreiminütige Lieder basteln.
Pop heißt Flüstern
Nach Björks letzten opulenten Veröffentlichungen wie
dem grandiosen Meilenstein
Homogenic
oder
Selmasongs
,
dem Soundtrack zum Lars-von-Trier-Film
Dancer In The
Dark
mit ihr in der Hauptrolle,
der ihr 2000 die Goldene Palme von Cannes eintrug und sie
aufgrund traumatischer Erfahrungen bei den Dreharbeiten gleich wieder weg vom
Schauspiel brachte, ist derzeit
Häuslichkeit angesagt:
„
Vespertine
handelt nicht
vom Schreien, sondern vom
Flüstern. Ich wollte wissen, ob
es möglich ist, allein in der
Küche Lieder zu schreiben.
Das Ziel war, die Idee der eigenen vier Wände zu feiern.
Die Wohnung muss kein muffiger, von der Welt abgeschotteter Ort sein. Es kann sehr
aufregend sein, seine Tage zu
Hause zu verbringen.“
Der 36-jährige isländische
Popstar Björk wohnt zwar derzeit im alles andere als zur
häuslichen Idylle einladenden New York. Im an den sowjetischen Futurismus
erinnernden Pariser Hauptquartier der französischen Kommunisten (Gussbeton trifft
Mondbasis Alpha 1) wurde
allerdings die neue CD vor einer Hundertschaft von Journalisten trotzdem so betont
„privat“ verhandelt, als könnte kein Hauch von Globalismus das Ereignis trüben.
Der offene Widerspruch ist
ein alter Weggefährte von
Björk. Am Vortag bei ihrem
Konzert im Revuetheater Rex,
wo sie neben Karrierehöhepunkten wie
Isobel, Bachelorette
oder der
Hyperballad
vor allem das versponnene,
durchwegs ruhige neue Material vorstellte, wurde ein Drittel des Zuschauerraums
ganz
im Gegensatz zur frisch ausgerufenen Intimität von
Vespertine
von einem gut
50-köpfigen klassischen Orchester in
Beschlag genommen.
Es hätte nicht auf die Bühne
neben einen während eines
Grönlandurlaubs in abgelegenen Inuit-Dörfern zusammengestellten 16-köpfigen
Frauenchor, die New Yorkerin
Zeena Parkins an der Harfe
und das durchgeknallte Elektronikduo Matmos aus San
Francisco gepasst.
Letztere speisen ihre
Klanglandschaften übrigens
nicht nur aus dem „digitalen
Alltag“. Hier kommen neben
der Bearbeitung eines Wellensittichkäfigs auch Samples
medizinischer Gerätschaft
und gute alte analoge Körpergeräusche zum Einsatz, die
entstehen, wenn man mit einem winzigen Mikrofon in
den Ohren bohrt oder sich am
Kopf kratzt: „Mein Zugang zur
Welt ist kindlich-naiv.“
Songs sind Blumen
Braucht man also gleich 70
MusikerInnen auf der Bühne,
um nach zig Jahren als öffentliche Person Freude am Privaten übermitteln zu können?
„Nun ja, Musik, die man ursprünglich nur in seinem Kopf
gehört hat, baut sich im Studio
zu einer tatsächlich großen,
universellen Angelegenheit
auf. Das innere Universum
wird nicht länger vom Ego zurückgehalten. Ich muss die
Bilder in meinem Kopf irgendwann loslassen.
Songideen sind ein Blumenbeet, in dem meine Musiker gedeihen können. Im
Gegensatz zu früheren Arbeiten
ist auf
Vespertine
allerdings
keine fordernde, sondern in
ihrer Passivität und Tagträumerei herausfordernde Musik
zu hören. Es ist mein Versuch,
mit den Menschen zu kommunizieren - eine unnatürliche Sache für mich, aber etwas,
das ich selten bereue.“
Zwischen dem Intimen und
Universellen existiert laut
Björk eine wunderbarer Ort,
nennen wir ihn Tagtraum.
„Von meinen Träumen bin ich
jedes Mal wieder positiv überrascht.“ Den Rest muss man
sich so vorstellen, dass, während das Orchester Richtung
der gerade Nase bohrenden
Matmos eine Breitseite feuert,
der Chor
All Is Full Of Love
jubiliert und eine marionettenhaft tanzende Björk mit
Schlittenhund-Schellen an den Füßen den sterbenden Schwan,
ihr neues Wappentier, gibt.
Im Bühnenhintergrund
droht eine arktische Eislandschaft: „Die Grundlage meines
Jobs ist Großzügigkeit. Ich gebe gern.“ Weniger ist mehr
wird da zu Zu viel des Guten.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24. 8.
2001)