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"In naher Zukunft werden die Grenzen zwischen Arznei- und Lebensmitteln verschwimmen", meint Ernährungsexpertin Hanni Rützler und fordert strenge Zulassungsbestimmungen. Standard : Sind Bioprodukte gesünder als diejenigen aus konventionellem Anbau? Rützler : Eine gesunde Ernährungsweise hängt aus Sicht der Ernährungswissenschaft in erster Linie von der entsprechenden Auswahl der verzehrten Lebensmittel ab, und erst in zweiter Linie von deren Qualität. Bioprodukte lassen sich, was die Inhaltsstoffe betrifft, mit chemisch-analytischen Methoden nicht von konventionellen Erzeugnissen unterscheiden. Analytisch nachweisbar ist bei ihnen nur der geringere Gehalt an Nitrat und Pestiziden. Außerdem hat die biologische Landwirtschaft die umweltschonendste Anbauweise. Eine reine Nährwert-Argumentation in Bezug auf das individuelle Gesundheitsplus von Bioprodukten greift daher zu kurz. Sie könnte sich sogar als kontraproduktiv erweisen, denn sie arbeitet industriellen Produktinnovationen aus dem Bereich Functional Food in die Hand. STANDARD : Handelt es sich beim Functional Food hauptsächlich um naturwissenschaftlich verbrämte Marketingaktivitäten, oder steckt mehr dahinter? Rützler : Der Lebensmittelsektor ist kein Wachstumsmarkt, sondern ein umkämpfter, gesättigter Markt. Teile der Nahrungsmittelindustrie versuchen im Anschluss an die Phase der Nährstoff-Anreicherung mit Vitaminen und Mineralstoffen mit neuen Produkten zu punkten. Nur in Japan, der Geburtsstätte des Functional Food, unterliegt dieses einem strengen Zulassungsverfahren. Seit 1991 darf es dort nur nach Durchlaufen einer strengen Kontrolle die Bezeichnung "Food for Specified Health" (FOSHU) tragen. Wünschenswert wären EU-weite Richtlinien, wie sie zurzeit schon für diätetische Lebensmittel bestehen. STANDARD : Welche Trends kann man bei den Lebensmitteln beobachten? Rützler : Vor wenigen Jahren waren Lebensmittel gefragt, die durch Entzug von Salz, Zucker, Cholesterin oder Fett glänzten. Heute sind es jene, die durch spezifische Inhaltsstoffe Nutzen bringen sollen. Es entstehen immer öfter Schnittstellen zwischen den Bereichen Pharmazie und Nahrung, und das Problem der Abgrenzung zwischen Nahrungs- und Heilmitteln wird sich weiter verstärken. STANDARD : Welche Lebensumstände haben derzeit die massivsten Auswirkungen auf das Essverhalten? Rützler : Wir befinden uns in einer Umbruch-Situation. Immer mehr Menschen sind mit unregelmäßigen Arbeitszeiten konfrontiert. Dies hat einen flexibleren Umgang mit dem Essen zur Folge. Nicht mehr die Mahlzeiten strukturieren den Arbeitsalltag, sondern die Arbeitszeiten den Essalltag. Rund zwei Drittel von denen, die regelmäßig arbeiten, essen fünfmal die Woche mittags eine Hauptspeise, während 75 Prozent mit unregelmäßiger Arbeitszeit ihre Hauptmahlzeit am Abend einnehmen. Letztere lassen öfter eine Mahlzeit ausfallen und bezeichnen ihre Ernährung im Alltag als "eher ungesund". Sie ernähren sich meist einseitiger und kalorienreicher. Es ist anzunehmen, dass die Veränderung der Arbeitskultur die Esskultur am nachhaltigsten beeinflussen wird. (Manfred Lechner, DER STANDARD Print-Ausgabe 23.August 2001)