Moskau hat seine Kontrollposten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny verstärkt. Die russischen Truppen, die in den letzten sieben Tagen mehr als 70-mal unter Feuer geraten sind, fürchten breite Angriffe der Rebellen. Die Lage in Tschetschenien ist gespannt. Im Süden der Kaukasusrepublik haben die Rebellen ein Dorf zurückerobert. Zusammenstöße werden auch aus Gegenden gemeldet, die eigentlich fest in Moskaus Hand sind. Täglich werden russische Soldaten und Polizisten verwundet oder getötet.

Vor zwei Jahren hat Wladimir Putin, damals neu ernannter russischer Premier, den zweiten Tschetschenienkrieg begonnen. Drei Monate später verkündete er, das Ende der "Antiterroraktion" sei in Sicht. Bis heute ist dies nicht mehr als ein frommer Wunsch. Moskau befindet sich in der gleichen Sackgasse wie im letzten Tschetschenien-Feldzug vor fünf Jahren. Damals setzte ein überraschender Sturm der Rebellen auf Grosny dem Krieg ein Ende: Russland gab nach dieser Niederlage auf, Verhandlungen wurden aufgenommen.

Manche Beobachter glauben, dass Russland auch für die Beendigung des zweiten Feldzugs gegen Tschetschenien ein militärisches Desaster brauche. Beide Seiten sollen sich bereits für den entscheidenden Schlagabtausch rüsten: Die Rebellenführer suchen offenbar den Schulterschluss, und Moskau hat seinen Truppenabzug gestoppt.

Innerhalb der russischen Armee gebe es eine wachsende Anzahl Generäle, die den Krieg beenden möchten, weil er nicht zu gewinnen sei, behautet der Militärexperte Pawel Felgenhauer. Ähnlich scheint mittlerweile die Stimmung in der Bevölkerung: Noch immer hält eine Mehrheit der Russen den Krieg gegen Tschetschenien zwar für gerechtfertigt.

Nicht verbessert

Allerdings sehen 40 Prozent ein, dass sich die Lage mit der Intervention nicht verbessert hat. Eine Mehrheit wünscht deshalb, dass Friedensgespräche mit den Tschetschenen aufgenommen werden.
Im Kreml setzt man derweil weiter auf die militärische Karte. Putin will von einer Niederlage nichts wissen. Er verteidigt im Gegenteil den Feldzug noch immer mit Vehemenz. In Tschetschenien habe vor der russischen Intervention totale Rechtlosigkeit geherrscht. Dem habe Russland, "Dank sei Gott - oder Dank sei Allah", in den letzten Monaten ein Ende gesetzt.

Derweil sind Berichte über schwere Übergriffe der russischen Streitkräfte auf tschetschenische Zivilisten weiter an der Tagesordnung. 82 Verfahren sind laut Angaben des Kremls gegen Militärs eröffnet worden wegen Verbrechen an Tschetschenen.

Zwei hohe Offiziere wurden suspendiert, mehrere Soldaten verhaftet. Doch von unabhängiger Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen kann keine Rede sein, vieles wird vertuscht, die gerichtlichen Nachforschungen bleiben selektiv. Der einzige Prozess wird gegen einen Oberst geführt, der eine junge Tschetschenin ermordet hat.

Doch auch unter den Tschetschenen ist das Klima rauer geworden. Die Rebellen sind dazu übergegangen, Landsleute umzubringen, die mit Russland zusammenarbeiten: Polizisten etwa oder Angestellte der Lokalverwaltung. Und die wenigen in Tschetschenien verbliebenen russischen Zivilisten sind ihres Lebens auch nicht mehr sicher. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 16.8.2001)