Europa
Türkei: Ex-Islamisten gründen neue Partei
Bewegung unter dem Parteisymbol einer Glühbirne erfreut sich regen Zulaufs und macht sich deutsche CDU zum Vorbild
Istanbul/Ankara - Knapp zwei Monate nach dem Verbot der islamistischen Tugend-Partei (Fazilet Partisi/FP) durch das türkische Verfassungsgericht haben Reformer unter den Ex-Islamisten eine neue Partei gegründet. Wie türkische Medien am Dienstag berichteten, reichten die Reformer um den ehemaligen Istanbuler Bürgermeister Recep Tayyip Erdogan beim Innenministerium in Ankara die Anträge für die "Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei" (AK) ein. Als Parteisymbol wählten sie eine Glühbirne.
Die Anhänger der FP, die ihrerseits die Nachfolgerin der vor drei Jahren verbotenen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi/RP) von Ex-Premier Necmettin Erbakan gewesen war, hatten sich nach dem Parteiverbot in zwei Gruppierungen gespalten, die der Reformer und die der Traditionalisten. Die Traditionalisten unter Parteichef Recai Kutan hatten vor kurzem eine neue Partei mit dem Namen "Glückspartei" (Saadet) gegründet.
Halbherziges Vorgehen
Die FP hatte 102 der insgesamt 550 Parlamentsabgeordneten gestellt. Der Verfassungsgerichtshof hatte ihr vorgeworfen, gegen die grundlegenden Verfassungsprinzipien des Laizismus (Trennung von Staat und Religion) zu verstoßen. Aber nur zwei Abgeordneten der Tugendpartei wurde das Mandat aberkannt.
Die von gemäßigten türkischen Islamisten gegründete "Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei"(AK) will sich an eine breitere Wählerschaft
wenden, die über jene der verbotenen Fazilet Partisi (Tugendpartei) hinausreicht. Die vom früheren Bürgermeister von Istanbul Recep Tayyip
Erdogan geführte Bewegung genießt auch die Unterstützung von Politikern der rechten Mitte. Sie hat sich von der religiösen Rhetorik ihrer
Vorgängerin und der traditionalistischen Fazilet-Nachfolgerin "Glückspartei" (Saadet) distanziert.
Reform des politischen Systems
Die neue Partei will sich für eine Reform des politischen Systems der Türkei einsetzen, das ihrer Ansicht nach für die herrschende Korruption,
Vetternwirtschaft und gegenwärtige Wirtschaftskrise verantwortlich ist. Als Vorbild dienen den Initiatoren der neuen Gruppierung - neben
Erdogan vor allem der Abgeordnete Abdullah Gül - die konservativen Parteien in Europa und besonders die deutsche CDU. Diese Parteien,
so argumentieren sie, würden schließlich auch religiöse Grundwerte vertreten, ohne als staatsfeindlich zu gelten.
Populärer Erdogan
Erdogan, der bis vor Kurzem mit einem politischen Betätigungsverbot belegt war, zählt zu den populärsten Politikern der Türkei. Die
Amtsführung des früheren Bürgermeisters von Istanbul ist in der Millionenmetropole deren Einwohnern in bester Erinnerung. Die neue Partei
soll nichts mit Religion zu tun haben, hatte Erdogan versichert: "Die Türkei braucht keine Koran-Gelehrten, sie braucht gute Führungskräfte."
Erdogan sagte in einer Rede, dass die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei Armut mindern, sich für Redefreiheit einsetzen und Folter
bekämpfen will. Die Partei will sich zudem für die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union einsetzen.
Hektische Parteiwechsel
Prominente bürgerliche Politiker haben sich bereits um Erdogan geschart, so etwa Meral Aksener, die unter Tansu Ciller erste weibliche
Innenministerin der Türkei war und die deren konservative Partei des Rechten Weges (DYP) verließ. Auch aus den Regierungsparteien MHP
(rechte Nationalistische Bewegung) und ANAP (konservative Mutterlandspartei) wechselten schon mehrere Abgeordnete zu den
islamistischen Reformern; weitere Übertritte sind angekündigt.
Die Erfolgschancen der neuen Formation sind gut. Keine der etablierten Parteien würde bei Neuwahlen den Sprung über die
Zehn-Prozent-Hürde schaffen; dafür wären aber weit über 50 Prozent bereit, einer neuen Partei die Stimme zu geben. Als Partei der neuen
Mitte will die AK nun dieses Wählerpotenzial ansprechen, das sich nach einer pragmatischen und effizienten Verwaltung in Ankara sehnt. (APA/dpa)