JedEr möchte mit Noreena Hertz sprechen. Seit Anfang Mai gibt sie zwei bis drei Radio- oder Fernsehinterviews am Tag. Ob über die Macht der multinationalen Unternehmen, die steigende Zahl der NichtwählerInnen oder die niedrige Bewertung des Euro - Noreena Hertz ist der neue Star der britischen Medien. Geweckt wurde das Interesse der TalkmasterInnen aller Sender, aber auch der seriösen Tages- und Wochenzeitungen durch ihr Buch The Silent Takeover - Global Capitalism and the Death of Democracy. Auf Deutsch erscheint es im Herbst beim Econ Verlag unter dem Titel "Wir lassen uns nicht kaufen - Keine Kapitulation vor der Macht der Wirtschaft". Darin behauptet Hertz das völlige Versagen der Marktwirtschaft. Zwanzig Jahre Kapitalismus à la Thatcher und Reagan hätten nur dazu geführt, einige Reiche noch reicher zu machen und die große Mehrheit der Weltbevölkerung unter die Armutsgrenze zu drücken. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaften in den Jahren 1989/90 schien es, als gehöre der Antikapitalismus der Vergangenheit an. Der größte Teil der Linken verlangte nur noch die Zivilisierung, nicht mehr die Beseitigung des von Märkten geprägten Wirtschaftssystems. Im Zeichen der Antiglobalisierungsbewegung erlebt die radikale Kapitalismuskritik heute jedoch ihre Wiedergeburt. Eine Koalition von buddhistischen Mönchen aus Bhutan über brasilianische Landlosen-Gewerkschaften bis zu europäischen Umweltschutz-und Verbraucherverbänden hat sich die entfesselten Märkte zum Feindbild erhoben. Noreena Hertz könnte eine der wichtigsten Stimmen dieser bunten, ziemlich heterogenen neuen Internationale werden. Frau Hertz ist der Inbegriff radikalen Chics in unserer Zeit. Besser lässt sich die These nicht illustrieren, dass die AntiglobalistInnen selbst ein Produkt jener Entwicklung sind, die sie als Ursache aller Missstände in der Welt ausgemacht haben. Der Lebenslauf der 34-Jährigen ist schlicht ohne Beispiel: Während des Londoner Studiums der Ökonomie und Philosophie jobbt sie in den Semesterferien bei Filmproduzenten in Hollywood. Eine bunte Vita Sie hat einen MBA aus der Wharton-Schule (Universität von Pennsylvania), einer der angesehendsten amerikanischen Hochschulen, die auf die Erforschung der internationalen Finanzmärkte spezialisiert ist. Ihr Professor schickt sie nach Moskau, um dort die neue Warenterminbörse mit aufzubauen. Dann - wir schreiben das Jahr 1991, und Noreena Hertz ist 23 - kommt Boris Jelzin in Russland an die Macht. Kurz darauf macht sie mit seinen Topberatern eine Schiffsreise auf der Wolga, um die Probleme der Transformation vom sozialistischen in das kapitalistische System zu erörtern. Zur Unterstützung der russischen Reformer heuert sie kurz darauf bei der Weltbank an. Aber auch dort hält es sie nicht lange. Frau Hertz, deren Eltern beide in Israel geboren sind, zieht es in den Nahen Osten: An der Spitze eines Teams von 40 ForscherInnen versucht sie herauszufinden, welche Rolle der private Sektor beim Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern spielen kann. Zwischenzeitlich hat sie noch promoviert und arbeitet jetzt als Stellvertretende Direktorin des Centers für Internationale Wirtschaft und Management an der Universität von Cambridge. "Wir lassen uns nicht kaufen" ist so abwechslungsreich und farbig wie das Leben der Autorin. Leider ist es auch ebenso sprunghaft und widersprüchlich. Das Buch setzt bei einer politischen Grundfrage des 21. Jahrhunderts an: Die Nationalstaaten sind machtloser geworden. Ihre Rechtsordnungen können die global agierende Wirtschaft kaum mehr begleiten. Märkte und multinationale Unternehmen haben zusehends an Macht gewonnen. Der Schwerpunkt des Wirtschaftens verlagert sich immer schneller dorthin, wo der größtmögliche Ertrag zu erzielen ist. Dabei entzieht das Kapital sich bewusster Steuerung und verhält sich gleichgültig gegenüber moralischen Standards. Als Folge davon kann ein Teil unserer Gesellschaft schlicht nicht mehr mithalten. Er entwickelt sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit wie die Wirtschaft. Viele Menschen erkennen nicht mehr, nach welchen Regeln gespielt wird. Das Misstrauen gegenüber den unkontrollierbaren internationalen Finanzmärkten erobert sich zunehmend einen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Rigorose Rhetorik Noreena Hertz nimmt diese diffuse Gefühlslage geschickt auf. Sie kokettiert mit der rigorosen Rhetorik und den aggressiven Aktionsformen der GlobalisierungsgegnerInnen. Sie war in Seattle und Prag dabei, als es gegen den Internationalen Währungsfond und ihren ehemaligen Arbeitgeber, die Weltbank, oftmals handgreiflich zur Sache ging. Sie kennt die Anleitungen zur direkten Aktion und das Ruckus Society Handbook, aus dem man erfährt, wie man sich gegen das Tränengas schützt. Über das Internet hält sie Verbindung zu Gleichgesinnten in der ganzen Welt. Ihre Mischung aus kämpferischem Erfahrungsbericht und einigen flott formulierten kapitalismuskritischen Thesen hat erstaunliche emotionale Kraft. Intellektuell überzeugt das Buch nicht. Es ist in der Analyse bruchstückhaft und begriffslos. Vieles kennt man schon. Die Geschichten von Shell und Nigeria, BP und Brent Spar können den regelmäßigen ZeitungsleserInnen nicht verborgen geblieben sein. Wo Hertz ihre politischen Ziele erläutern soll, fallen ihr nur Verstaatlichungs- und Umverteilungskonzepte, die Stärkung von grauen Bürokratien ein. In der demokratietheoretischen Diskussion treibt sie die Argumentation allerdings einen Schritt weiter: Weil sie vor den multinationalen Unternehmen kapitulierten, entzögen die nationalen Regierungen der Demokratie die Basis. Es sei heute sinnlos geworden, zu wählen. Wählen ist sinnlos Viele spürten ihre Machtlosigkeit und begäben sich deshalb auf die Straßen von Seattle, Prag oder Genua. Wir lassen uns nicht kaufen leidet darunter, dass es nur die negativen Aspekte der Globalisierung aufzeigt. Noreena Hertz verschweigt: Die Globalisierung hat in den vergangenen zwanzig Jahren durchaus einen enormen Wachstumsschub verursacht. Sie führte zur weltweiten Arbeitsteilung mit kreativeren und anspruchsvolleren Arbeiten für die besser qualifizierte Milliarde Menschen, zu denen auch die EuropäerInnen gehören. Es gibt kein besseres Beispiel für diese These als die Biografie der Autorin. Insofern bedeutet Globalisierung auch neue Freiheit. Traditionen, Milieus, Zwänge verlieren Kraft. Die/der Einzelne darf ihr/sein Leben selbst entwerfen. Aber sie/er muss auch ihre/seine Flexibilität unter Beweis stellen. Und manchmal hält sie/er das nicht aus. (STANDARD-Mitarbeiter Christian Schwandt) (D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 14./15.8. 2001)