Den Österreicher muss man lieb haben. Lieb haben für all die Schnörkeleien, Verzierungen, Sezessionen und Ornamente, mit denen er seine Bauten schmückt, gern haben muss man den Österreicher aber auch wegen seines großen Hungers. Der bleibendste Eindruck meiner Wienreise ist das Gasthaus "Zu den Zwei Lieseln", wo man Schnitzel ordert. Was die überlebende der zwei Lieseln einem dann serviert, das ist kein Schnitzel. Das ist eine Mission. Eine herkulische Aufgabe, die rechten Glauben braucht - und die utopische Vision eines leer gegessenen Tellers. Vor mir erstrecken sich die Weiten Russlands, getarnt als pizzagroßes Schnitzel. Zügig kämpfe ich ein Viertel des Tellers leer. Aber ich weiß: Schon Napoleon und die mechanisierten Verbände der Wehrmacht sind hier gescheitert. Russland ist endlos. Abgebröckelte Schnitzelkrustenteile liegen als Partisanen im leer gegessenen Tellerviertel und verunmöglichen einen sauberen Frontverlauf. Also esse ich auch die Partisanen tapfer auf und kämpfe weiter. Doch im letzten Drittel muss ich mich geschlagen geben. Meine ortskundigen Freunde erklären mir, es gehöre zu den Hausgepflogenheiten, dass man sich Restrussland in Butterbrotpapier einpacken lasse und mitnehme. Ich bitte Sie, Österreicher! Ich bin ein gepflegter, mittelalterlicher Herr im Seidensakko und führe plötzlich in der Innentasche ein mit Butterpapier umwickeltes Schnitzelreststück spazieren, das von seinen Dimensionen her noch immer dem entspricht, was in Zürich oder Paris als vollwertiges Erwachsenen-Schnitzel durchgeht. Weil der Österreicher so großen Hunger hat und so viel essen muss, hat er's mit der Ruhe. Hektisch geht hier gar nichts. Ein Paradies für den Herumlungerprofi, der mit Freude feststellt, dass in den Kaffeehäusern tatsächlich Intelligenzler herumhocken, die großen Blätter der Welt lesen und Gott einen guten Mann sein lassen. Im Antiquariat finde ich ein Kompendium für den jungen Wiener Herrn, das um die Jahrhundertwende erschienen ist und detailliert Auskunft gibt über die perfekte Knopflochblume, verschiedene Formen des Handkusses und die wichtigsten Regeln des Duells. Im Kapitel, in dem die Frage der Arbeit erörtert wird, richtet der Verfasser sich offensichtlich an ein Publikum, das ganz eminent der Auffassung ist, man solle tunlichst nichts arbeiten. Die Beschwörungen, dass zwei, drei Stunden konzentriertes Arbeiten der Charakterbildung nicht unabträglich sei, scheinen Erfolg gehabt zu haben. Es scheint heutzutage gar nicht mehr so unüblich, jeden Tag zwei, drei Stunden zu arbeiten. Beispielshalber als Kassier in diesem skandalumwitterten Museumsquartier, über das sich der Wiener so gerne echauffiert. In einer langen Schlange stehe ich mir vor der Kasse des Museums für Gegenwartskunst die Beine in den Bauch, weil gerade nur ein junger Mensch in einer Art Zeitlupenperformance Eintrittskarten verkauft. Die restlichen Kollegen dümpeln derweil hinterm Kontor dumpf und unbeschäftigt vor sich hin, weil sie für ganz, ganz andere Tickets zuständig seien. Täte ihnen sehr leid. Während ich warte, habe ich den Österreicher immer weniger gern. Ja, finde ihn ein wenig lächerlich, wie er voller Stolz jedes von der Gemeinde erstellte Gebäude mittels Tafel sagen lässt: He, hergehört, das habe ich, die Gemeinde Wien, selber gebaut. Jaha, ich, die Gemeinde, habe dieses Haus gebaut! Häuser hat doch jeder. Stolz soll der Wiener dagegen auf seine Fahrradwege sein, die dem Velo-bewehrten Touristen ein angenehmes und sorgenfreies Herumkurven erlauben. Wenigstens so lange, bis er von Ordnungshütern hört, die mit Blaulicht Fahrradfahrer hetzen, weil diese schwerkriminell durch Einbahnstraßen radeln. Oder von Polizisten, die nächtens aus Büschen springen, um angezwitscherten Radlern dicke Bußgelder aufzubrummen und gegebenenfalls den Führerschein zu entziehen. Zum Beispiel, weil einen die Wiener Freunde erst gehen lassen, nachdem sie einen mit dem Landesmotto "Einer geht immer noch" randvoll abgefüllt haben. Der Tourist verspricht, sich auf dem Heimweg um gerades Fahren zu bemühen, und, nein, er werde weder durch Schimpfen noch durch Singen unangenehm auffallen. Außerdem, weiß der Tourist aus dem Reiseführer, geziemt es sich im Fall der Fälle, selbst dem tumbsten Verkehrskadettenrekruten mit einem markigen "Jawoll, Inspektor!" die Honneurs zu machen. "HERR Inspektor!", korrigieren die Wiener Freunde. Man nimmt dann doch lieber ein Taxi, denn vom Österreicher als Polizisten hört und liest man so mancherlei, die Regierung scheint viel Vertrauen in die neuen, durchschlagenden Methoden der italienischen Sicherheitskräfte zu haben, und das Gefängniswesen soll balkanischen Gepflogenheiten verpflichtet sein. Mit Schaudern liest man deshalb im Taxi ein Schildchen, das mit der Drohung endet: "Widrigenfalls Verwaltungsstrafe". Ich flüchte in die Sommerfrische und fahre von Wien an den Wörthersee. Auf der Zugfahrt schaut alles ebenso nett aus wie in der Schweiz. Berge und Bäche, Wälder und Wiesen, Bauer und Burg, alles sehr akkurat in diverse Grüns reindrapiert. Der Wörthersee mit seinen 23 Grad und der Bergkulisse ist ein echter Darling, und abends steigt in Klagenfurt auch noch ein "Fest für Jörg", den Mann, der immer sehr fesch geschnittene Anzüge und im Ausland eine furchtbar schlechte Presse hat. Eine willkommene Attraktion für den zeitungslesenden Touristen! Das "Fest für Jörg" entpuppt sich als Eröffnung der Seebühne Klagenfurt, wo man mit Blick auf See und Berge inmitten von aufgebrezelten Damen und festlich krawattierten Herren der Provinz-High-Society sitzt. Passend zur Provinz dann auch das Ballet "Wolfgang Amadé". Herr Haider frappiert mit solariumbrauner Gesichtsfarbe, überzeugt aber mit einem hübschen Trachtenanzug, der Erlösung von dem langweiligen Boss-Lang-Armani-Einerlei verspricht. Meine Wiener Freunde sind entsetzt, als ich am nächsten Tag beim Traditions- und Jagdspezialisten Kettner einen ebensolchen erstehe. Und ich muss schwören, mich nur außerhalb der Landesgrenzen als begeisterter Freund Österreichs zu outen und endlich dieses Schnitzel aus meinem Sakko zu entfernen.