Literatur
Landläufige Chronik
Mehr als nur "Fabulierfreude": Brasiliens Dichter Jorge Amado verstarb 88-jährig
Montevideo - An den größten lateinamerikanischen Autoren pflegt man deren "Fabulierfreude" zu loben, als
handelte es sich dabei um eine dschungelbunte, nicht weiter verbindliche Marotte. Autoren wie Jorge Amado, der
am Montag 88-jährig in Salvador de Bahia an einem Herzstillstand verstarb, gaben der Literatur des Kontinents
hingegen deren soziale Schärfe zurück.
In Amados Werk sind es die Außenseiter, welche die angeblich unverrückbaren Verhältnisse in den suburbanen
Armenvierteln Brasiliens erfolgreich auf den Kopf stellen. Wiederholt gerät die kleinbürgerliche Ordnung aus den
Fugen, verfällt die Bigotterie der Lächerlichkeit, platzt unter peinlichem Gelächter das enge Sittenkorsett. Anna
Seghers nannte Amado, den Chronikschreiber einer fortwährend sich umwälzenden Gesellschaft, den "Balzac"
Lateinamerikas. Und in der Tat hat der Exkommunist sein bescheidenes Leben lang an einer "Comédie humaine"
gearbeitet, an einem verwirrend bunten Webteppich der Irrtümer und Torheiten.
Amado, der zuletzt unter Arterienverkalkung litt und halb blind war, schrieb rund 40 Werke, die Geschichten aus
dem Nordosten Brasiliens erzählen, dem "Armenhaus" des Landes. Amado verfasste zunächst sozialkritische
Werke im belehrenden Ton. In den 50er-Jahren wurde sein Stil lockerer und humorvoller.
Viele seiner literarischen Personen sind schrullige Charaktere, die man trotz ihrer Widersprüche ins Herz schließt,
wie Tieta do Agreste. Die Novelle, in der eine Lebedame aus der Stadt ein nordbrasilianisches Fischerdorf auf den
Kopf stellt, war auch in deutschen Kinos mit der brasilianischen Schauspielerin Sonia Braga in der Hauptrolle zu
sehen. Braga verkörperte zudem die Titelheldin in der Verfilmung von
Dona Flor und ihre zwei Ehemänner
. Amados
Erfindungen sind Referenzpunkte des brasilianischen Selbstverständnisses.
Der 1912 auf einer Kakaofarm des ländlichen Bahia geborene Amado ging in der Provinzhauptstadt Salvador aufs
Gymnasium und schloss sich bald einer Gruppe rebellischer Intellektueller an. Er schrieb Artikel in linken
Publikationen, mit 19 Jahren Erzählungen und studierte in Rio de Janeiro Jura und Sozialwissenschaften. Fasziniert
vom kommunistischen Parteichef Luiz Carlos Prestes verfasste er nicht nur eine Biografie des Revolutionärs,
sondern schloss sich auch dessen Partei an. Militärdiktator Getulio Vargas verbot daraufhin einige Werke Amados
und steckte den aufrührerischen Schriftsteller ins Gefängnis.
Dieser blieb seinen Überzeugungen treu und wurde 1945 zum KP-Abgeordneten Sao Paulos gewählt. Nach zwei
Jahren verbot die Junta alle Linksparteien, Amado musste ins Exil gehen. Einige Jahre lebte er in Paris und in Prag.
1958 überwarf er sich mit den Kommunisten und lebte fortan nur noch für die Schriftstellerei.
(poh, weiss/ DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8. 8. 2001)