Er ging immer quer über die Geleise: in seinen stark polarisierenden Inszenierungen suchte Einar Schleef (1944 - 2001) nach einem neuen Theater: aus den Stimmen der Masse schält sich, zerbrochen, das Individuum. Schon vor zehn Tagen starb Einar Schleef an Herzversagen. Einar Schleef ist tot. Aber können Stimmen tot sein? Hallen sie nicht, wie seine exzessiv musikalischen Inszenierungen, nicht nur durch die wichtigsten deutschsprachigen Theaterräume, sondern auch in den Schritten wider, die jeder, der als Einzelner die Masse verlässt, in eigenen Lebensweg setzt? Heiner Müller beschrieb in knapper Genauigkeit das Zentrum der Arbeit seines großen Mitarbeiters, des Dichters, Sprechers, Bühnenlautmalers Einar Schleef: Der 1944 im sächsischen Sangershausen geborene und in der DDR als Bühnenbildner und Regisseur ausgebildete Schleef eröffne einen neuen "Spielraum zwischen Aischylos und Popkultur, das den Chor zum Protagonisten macht, weil er die Geburt des Protagonisten aus der Unterwerfung der Frau nicht akzeptiert." Der 1976 nach einem Wien-Aufenthalt nicht mehr in die DDR zurückgekehrte Einar Schleef ("Jeden Tag möchte ich dorthin hundertmal nicht mehr zurückkehren", sagte er in einem Interview) zeigte dies in seiner Praxis und in der Theorie, im Theater und in der Dichtung: 1985 hatte ihn Günter Rühle an das Frankfurter Schauspiel geholt, wo er den Chor in seiner Antikenparaphrase "Mütter" - 56 Stimmen übereinandergelagert, Zeiten, Räume, Verzweiflungen und Ausbruchsversuche in Ton-und Bildschienen, die auf viele provozierend, auf viele andere aber rettend, befreiend wirkten. Von Euripides über den Götz von Berlichingen in Frankfurt bis zur Sensationsinszenierung von Brechts Puntila in Berlin 1996 löste er Linearitäten und das auf Individuen konzentrierte Schauspielertheater auf in eine Fläche, in Massen, in kollektive Gewalt. - Es hätte, sagte Schleef in seiner provokant-witzig-todernsten Mischung, durchaus einen sozialistischen Pluralismus gegeben, von dem er in Ostberlin lernte: Die Peking-Oper, japanisches Theater, indische Tanzensembles. Ja: Vielleicht lief alles als eine komplizierte Fuge aus Leben, Flucht und Denken auf einen der großartigsten Theaterabende zu, die erfolgreichste Inszenierung seines Lebens, Jelineks Sportstück im Jänner 1998. Schon äußerlich liefen hier die Stimmen zusammen: Die von zwei großen Erzählern, Analytikern, Kompromisslosen: In seinem riesigen Prosa-Monolog Gertrud (1980) hatte Schleef die Romanform zum Theater gemacht; Jelinek hatte umgekehrt das Theater episch aufgebrochen. Bei beiden liefen Mütter- und Väterstimmen, kollektive Gewalt und individuelle Ausbruchsversuche zusammen: Schon von der Literatur her schien die Kombination einen großen Raum zu eröffnen. Sofern Einar Schleef, der als schwierig und unberechenbar verschriene, kommen würde. Er kam. Er brauchte 140 Schauspieler. Und mindestens 6 Stunden. Und einen Direktor wie Peymann, der die Überstunden nach 11 Uhr abends zahlen wollte.
Wildes Theater
Aber das war es noch nicht. Es waren die Bild- und Tonwelten, die hier konzentriert Einar Schleefs neues, anderes, vom Starprinzip völlig gereinigtes, wildes Theater im Modell vorführte: Da hingen Leiber aus dem Schnürboden, da turnten sie wie in Bitomskys Körperertüchtigungen im Dokumentarfilm "Deutschlandbilder", da sang ein Matrosenchor "Gott erhalte, Gott beschütze ...". Da erfand Schleef zu den Massen Jelineks - Sport als Metapher für die Auslöschung des Individuums, dessen Unterwerfung unter Zeit und Erfolg - noch viele eigene, neue. Von den fußballspielenden Knaben (keiner schaffte es, den Ball elegant aus dem Zuschauerraum zurückzuschießen) bis hin zu den Mädchen in Rüschenkleidern, die Hofmannsthals großen Elektra-Monolog der Elfi Elektra entgegenstammelten. Das war die farbige, wilde, unerhörte Praxis. Die Theorie dazu beschäftigte ihn schon lange davor und danach - gebündelt ist sie in seinem Lebensbuch Droge Faust Parsifal (1997), für das Schleef 1998 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde: Das deutsche Theater, meinte er darin, sei eine Kombination aus Antike und Shakespeare, wobei Schillers Räuber als erste den antiken Chor über das Individuum stellen, die Anonymität über die scheinbar "authentische" Selbstverwirklichung: Individualisierung ist nur zu haben um den Preis der Ausstoßung aus der Masse, der Abwendung davon, der Abweisung der "Droge Blut".
Chorstimmen
Einar Schleef sieht aber nicht nur das negative, sondern primär das enorme ästhetische und politische Potential von Chorstimmen auf dem Theater: "Die Irritierung und Erregung, die von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen ausgehen, werden nur noch als erschreckende Bedrohung empfunden" - und zwar auch deshalb, weil den Stimmen hier immer die unterdrückte, ausgegrenzte Stimme der Frau fehlt. Schleef hat diese Stimmen in hundertfacher Überlagerung und Verstärkung auf das Theater zurückgeholt. Und er selbst, wo blieb er in den Stimmen der Gegenwart? In seinem Prosamonolog Zigaretten kreierte Schleef 1998 in der Stimme eines von seiner Frau verlassenen Mannes in mittleren Jahren in Berlin einen unglaublichen, unerhörten Aufschrei der Einsamkeit, Verlassenheit: Nur noch ein Kaninchen, kreisende Krähen, unabgewaschenes Geschirr umstellen den Erzähler: "Er fror. Und dieses Frieren kam von ganz innen." Und er geht - wie auch Einar Schleef oft wochenlang verschwand und durch die Lande strich, wie auch jetzt vor seinem Tod, der schon am 21. Juli durch Herzversagen eingetreten war und erst jetzt bekannt wurde.
Protestantisch streng
Im Wiener Akademietheater sagte Einar Schleef bei seiner unvergesslichen Rezitation aus Nietzsches Autobiografie Ecce Homo 1988: "Ihnen ist diese protestantische Strenge wahrscheinlich fremd. Aber ich komme aus seiner Gegend, ich höre den Predigtton des Pfarrhauses bei Lützen. Es ist der Ton der revolutionären Reformation Thomas Müntzers." - Und diesen Ton brachte Einar Schleef in seinem Stocken, Stottern, Zögern, in seinen fahrigen Lebens- und Theaterbewegungen wie niemand ins Theater. Seine Liebe gehörte Nietzsches dyonysischem Chor, seine zärtlich-kämpferische Üerredung in Sprechen, Schreiben und Insezenireen war und ist weiter ein Lädoyer dafür, weniger brav zu sein: wild, aber in größter Genauigkeit. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. 8. 2001)