Die Berichte darüber klingen eher so, als sei ein Polizist und nicht ein Demonstrant erschossen worden. Das liegt zum nicht geringen Teil an der einhelligen Unterscheidung in gute und böse Demonstranten: hier die Randalierer - dort jene, die ein inhaltliches Anliegen vertreten. Angesichts der Ersteren wurde Genua in eine Festung verwandelt. Sie bestand im Wesentlichen in einer Grenzziehung, die zwei Bereiche völlig trennen sollte: Innerhalb der so genannten "roten Zone" verschanzte sich die Macht.

Abriegelung

Durch diese totale Abriegelung wird sie gewissermaßen exterritorialisiert: Die Macht wird in einen Sonderraum jenseits des normalen Lebens verlegt und jeglichem Zugriff entzogen. Damit wird zugleich die moderne Macht, von der unklar ist, wo sie liegt und wer sie in Händen hält, verortet: Die polizeilichen Abriegelungen verschaffen ihr einen sichtbaren "Ort". Damit erhält diese anonyme Macht eine - ungewollte - Repräsentation. Von diesem Zentrum aus, werden die Proteste an eine Peripherie verwiesen.

In der Festung sind die Verhältnisse klar: Macht ist, was sich innerhalb dieser Grenzlinie befindet, der Protest gegen sie ist außerhalb. Damit zieht diese Grenze aber alle Begehrlichkeiten an.

Demonstranten pilgerten immer wieder zu dieser, um sie zu überwinden. (In den Straßeninterviews hörte man immer wieder: Ich möchte in die rote Zone.)

Erwarteter Toter

Folgerichtig stand auch diese Grenze - und damit die Ausschreitungen - im Rampenlicht. Es ist ein Gemeinplatz, dass im Medienzeitalter erst die so genannten Randalierer die Schwelle des Bildwerts überschreiten: Die Ausschreitungen eröffnen jenes "Feld der Sichtbarkeit", auf dem die "seriösen" Anliegen und Inhalte überhaupt erst wahrgenommen werden. Damit ist aber jene Steigerung impliziert, wie sie in Genua nun stattgefunden hat.

Der erste Tote war - spätestens seit Göteborg - gewissermaßen erwartet. Dabei darf man nicht vergessen, dass die sg. Randalierer mit der Polizei "kommunizieren", die sg. guten Globalisierungsgegner richten sich aber an die Weltenlenker. Während Ersteres als immer härtere Konfrontation zustande kommt, findet Zweiteres nicht statt. Die friedlichen Demonstrationen finden in einer paradoxen Parallelität zu den Tagungen statt - ohne Berührungspunkte. Das bedeutet aber, dass die Anti-Globals aus Sicht der Politiker kein Gegenüber darstellen. Dazu passt, dass die Kommentatoren nicht nur zwischen Gut und Böse unterscheiden, sondern - in einem zweiten Schritt - den Guten die inhaltliche Kompetenz absprechen. Die Forderung der Kommentatoren nach schlüssigen Alternativen verfehlt den Kern der Sache. Um das zu verstehen, muss man sich Spezifisches dieser "Bewegung" vor Augen halten.

Dies ist kein Klassenkampf im klassischen Sinn. Denn im Unterschied zur Arbeiterbewegung handelt es sich hierbei nicht in erster Linie um das Engagement der Betroffenen selbst. Ebenso wenig sind es Leute, die produktiver Teil jenes Prozesses sind, gegen den sie protestieren: Sie sind nicht Elemente der unmittelbaren Kapitalbildung, wie etwa die Arbeitskraft im Produktionsprozess, die an dieser Stelle auch intervenieren konnte.

Globaler Standpunkt

Die Anti-Globals unterscheiden sich aber auch von den so genannten sozialen Bewegungen, insofern als sie keine partikularen Interessen vertreten, sondern wieder einen - eigentlich verabschiedeten - universellen Standpunkt einnehmen: Es ist also nicht nur eine geographische Globalisierung des Protests, sondern auch eine inhaltliche, politische. Und sie unterscheiden sich auch von den rebellierenden Achtundsechzigern. Denn Ziel des Protests ist nicht die Revolution, ebenso wenig wie dessen Grundlage eine gesellschaftliche Utopie im Sinne eines Gegenmodells ist. Während die Kommentatoren nach Gegenentwürfen rufen, die ein Außen des globalisierten Kapitalismus wären, operieren die Globalisierungskritiker in Anerkennung von dessen Spezifik.

Sie präsentieren keine utopischen Alternativmodelle, die die viel gerühmte Kraft des Spätkapitalismus, alles - auch alle gegen ihn gerichteten Widersprüche - integrieren zu können, leugnen würde. Sie präsentieren vielmehr Regulierungen innerhalb desselben. Gleichzeitig zeigt ihr Protest aber auch, dass dieser "paradoxe Raum", der keine Widersprüche, kein wirkliches Außen mehr kennt, seine "Grenzen" hat - und zwar dann, wenn er in sein Gegenteil umschlägt: in eine Festung.

Die Besonderheit der Anti-Globals liegt nicht anderswo als in ihren Interventionen, anders gesagt in dem unglaublichen Maß an Selbstmobilisierung, das sie hervorzurufen imstande sind. Als solche sind sie die direkte Antwort auf das neoliberale Subjekt, den Unternehmer seiner selbst. Die Anti-Globals zeigen eine andere Art der Eigeninitiative - mit einem neuen Typus von dezentraler Bewegung ohne zentrale Identifikationsfigur. Seit Genua hat sie hingegen ein erstes Opfer. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23.7.2001)