Tutanekei macht den Eindruck, als wäre es ihm todernst. Wüst fuchtelt der Maori mit einem hölzernen Speer, atmet so schwer wie ein altes Postross und gackert schauderhafte Laute. Am Leib trägt der Hüne nur eine Art Baströckchen, und wenn der durch den dunklen Himmel wirbelnde Wurfspieß nicht so verdammt nahe wär', wäre sein Auftritt zum Lachen.

Was am Eingangstor zum Marae, einem traditionellen Versammlungsplatz der Maori, der Nachfahren polynesischer Ersteinwanderer, vor sich geht, ist kein programmiertes Ausflippen für Touristen, sondern die übliche, wilde Zeremonie, wenn Gäste bei einer Maori-Versammlung, dem Hui, geduldet sind.

Sobald mit dem Fuchteln und Grölen Schluss ist,

legt Tutanekei ein Stoffpüppchen auf den Boden, das ein Besucher zackig aufhebt, ohne den Blick von Tutanekei abwenden zu dürfen, wovor dieser sich auch hütet. Die Frage, ob man sich spinnefeind ist - darum geht's bei diesem Auftritt -, scheint geklärt. Durch den von Fackeln erhellten Hof tapsen alle zum Versammlungshaus, dem Whare Runanga, einem spirituellen Ort. Auf der einen Seite nimmt die Sippe der Maori auf dunklen Holzbänken Platz, ihnen gegenüber eine eingeschüchterte Hand voll Europäer.

Diese Maori, hier in Paihia auf der Nordinsel Neuseelands, circa vier Autostunden von Auckland entfernt, sind keine Sehenswürdigkeiten, die in Strandhütten hausen, in Kanus herumpaddeln, Fische aufspießen und für Touristen den Wilden markieren. Hier versammeln sich Busfahrer, Bankbeamte oder Lehrerinnen, ihre Kids klemmen Skateboards unter die Arme, und ihr Hosenboden ist genauso auf Halbmast wie sonst wo.

Die Leute treffen sich mit großer Ehrerbietung für ihre Vorfahren zu den Versammlungen, einer Art kommodem Gottesdienst. Männer halten Reden, wild gestikulierend stehen sie da und sprechen frei von der Leber weg, ohne den anderen zu unterbrechen. Stimmt die Menge dem Gesprochenen zu, raunt sie "kia ora", den Gruß der Maori. Sie raunt oft. Für den Beobachter sind diese Zusammenkünfte wie der Blick in einen Rückspiegel, der die stolze Vergangenheit der einstigen Herrscher Neuseelands erahnen lässt.

Die zerfurchten Gesichter der uralten Frauen, die einem beim Hui gegenübersitzen, sind den Wänden zugewandt.

Sie blicken auf die geschnitzten Fratzen und in die aus bunt schillernden Paua-Muscheln geformten Augen ihrer Vorfahren und Götter. Einem von ihnen, dem Halbgott Maui-tikitiki, verdankt Neuseeland einer Legende nach seine Entstehung. Er fuhr, als die Erde noch sehr jung war, zum Fischen aufs Meer. Dort ließ er einen mit seinem Blut getränkten Angelhaken aus dem Kieferknochen seiner Oma auf den Meeresgrund hinab. Der Haken fasste etwas, und Maui zog einen gewaltigen Fisch aus dem Wasser, der den Namen Te ka a Maui - Mauis Fisch - trägt. Besser bekannt ist er als die Nordinsel Neuseelands mit der Hauptstadt Wellington. Zurück von diesem Angelausflug blieb auch Te Waka a Maui - Mauis Kanu -, die Südinsel mit ihrem 3753 Meter hohen Mount Cook.

Von Menschen entdeckt worden ist die Insel laut Überlieferung um 950 n. Chr. vom Seefahrer Kupe auf einem zweirümpfigen Boot mit dreieckigem Segel. Im Jahre 1642 erreichte der Holländer und Tasmanienentdecker Abel Tasman Neuseeland, setzte aber, ohne an Land gegangen zu sein, die Segel, nachdem vier seiner Seeleute von Maori umgebracht wurden. 127 Jahre später kam der große Globetrotter Captain Cook, und in seinem Schlepptau allmählich Wal- und Robbenjäger und erste Siedler aus dem britischen Imperium.

Die Maori in Paihia haben ihre Anliegen inzwischen vorgebracht.

Jetzt ist es an den Besuchern, sich vorzustellen. Zwei Auserwählte erzählen stellvertretend für die Gruppe von ihrer Herkunft. Die Gemeinde will von fernen Flüssen, Bergen und Seen hören. Dann werden die Gäste zum Singen eines Liedes aufgefordert, und eine schauderhafte Version von "Oh Tannenbaum" erklingt, "Veronika, der Lenz ist da" scheidet wegen Mangels an Textkenntnis aus. Die Menge schmunzelt, das erste "kia ora" für die Besucher erhallt. Der Bann scheint gebrochen, das anfängliche Zeter-und-Mordio-Gebrüll fast vergessen, man gehört jetzt irgendwie dazu. Fast. Denn erst nach dem Hongi, dem traditionellen Willkommensgruß der Maori, einer Art zärtlichen Nase-an-Nase-Stupsens, ist man hier laut den Worten der Maori für alle Zeit gern gesehen. Hongi symbolisiert das gemeinsame Atmen derselben Luft.

Und die begann besonders eng zu werden, als die Maori, nachdem sich im Jahre 1840 mehr als 500 Häuptlinge von den Engländern, den Weltmeistern im Kolonialisieren, gewaltig über den Tisch ziehen ließen. In dem Moment, da diese Chefs ihre Unterschrift beziehungsweise ihr Moko - das der Gesichtstätowierung nachempfundene Häuptlingssiegel - unter den Vertrag von Waitangi setzten, traten sie die volle Souveränität an England ab.

Schmackhaft gemacht wurde ihnen der Deal mit Queen Victoria damit, dass ihnen königlicher Schutz sowie alle Rechte eines britischen Untertanen als Gegenleistung versprochen wurden. Real bedeutete dieser Verlust der Souveränität systematische Enteignung und in weiterer Folge starke Diskriminierung, was schon bald zu ersten Kämpfen zwischen Maori und englischen Siedlern führte. Etwa drei Millionen Hektar Landfläche von insgesamt 66 Millionen blieben den Maori. Bis heute stellen die Maori nur eine Hand voll Sitze im Parlament von Wellington, Berufe wie Müllmann oder Bauarbeiter werden noch immer in erster Linie von dieser Bevölkerungsminderheit ausgeübt.

Zurück zum Hongi: Die Besucher stellen sich an, um jedem anwesenden, wildfremden Menschen ihre Nasen ins Gesicht zu drücken. So ist's der Brauch.

Der Erste in der Reihe ist ein Bär von einem Maori.

Sein Gesichtsausdruck, eben noch die Miene eines Kriegers, verwandelt sich in den eines Honigkuchenpferds, als der erste Fremdling dem Lulatsch, anstatt seine Nase auf die des Maori zu drücken, einen dicken Schmatz aufs Riechorgan gibt. Die Gastgeber lachen schallend, und nachdem der leicht errötete Deutsche aufgeklärt ist, geht's los, das große Nasenkuscheln.

Es ist eine spaßige Sache, dieses Nasenstupsen, hat einen Hauch von Abenteuer, man denkt an den Meuterer Fletcher Christian und die süße Maimiti auf Tahiti. Einer Schweizerin kullern vor Rührung Tränen über die Wangen, nachdem sie von einer Greisin mit schlohweißem Haar gedrückt wird.

Was so idyllisch klingt, liegt aber historisch betrachtet unter einem düsteren Schatten.

Erst allmählich erholen sich die Maori von einer langen Zeit der Unterdrückung und Benachteiligung, von Jahren, in denen sogar beinahe ihre Sprache verloren ging. Seit einigen Jahrzehnten keimt neues Selbstbewusstsein. Sehr lange orientierte man sich an der Lebensform der Weißen, der Pakeha, vergaß auf Tradition, Identität und wanderte in die Städte, was vielen Maori Arbeitslosigkeit, Säufertum und ein Dasein im Getto einbrachte.

Heute wird die Sprache der Maori wieder in der Schule gelehrt.

Seit Jahrzehnten gibt es Prozesse um Besitzansprüche und bedeutende Protestveranstaltungen. Die Suche nach einer Identität lässt neue Zugänge zum Maoritum finden. Einen sportlichen Anteil daran hat der Erfolg des weltmeisterlichen Rugby-Teams Neuseelands, der All-Blacks, deren Mordskerle vor allem von Maori abstammen und nach denen das ganze Land närrisch ist.

Alan Duff, selbst Maori und Verfasser der Buchvorlage zum international beachteten Kultfilm "Die letzte Kriegerin" aus dem Jahre 1994, sieht die Lösung jedoch nicht nur in einer Rückbesinnung auf Maoritraditionen, sondern in der Bereitschaft zu einer flexiblen Reform ihrer Kultur. Duff spricht sich dagegen aus, die Maori nur als Opfer europäischen Kolonialismus zu betrachten. Sein Film - nichts für Zartbesaitete - zeigt das tragische Scheitern einer Maori-Familie in den Suburbs der 1,1-Millionen-Einwohner-Stadt Auckland. Erst als die Ehefrau versucht, der brutalen Spirale aus Alkohol, Gewalt, Machotum und sexueller Nötigung zu entfliehen, scheint eine erträgliche Zukunft vorstellbar.

Weit entfernt von Aucklands tristen Vororten

Hier in der Bay of Islands, einer Inselgruppe von circa 150 Eilanden, wird nach der Versammlung im Nebenhaus groß aufgetischt. Hangi nennt sich das traditionelle Essgelage, bei dem verschiedene Speisen in Blätter gewickelt und im Erdofen über heißem Seetang unterirdisch gedünstet werden. Nach der Völlerei führen die Frauen des Stammes einen Tanz vor, zu dem ihre lieblichen Gesänge, gleich dem Klang mystischer Meerjungfrauen aus den Tiefen der Südsee, ertönen.

Danach präsentieren die Männer mit lauter, tiefer Stimme, weit herausgestreckter Zunge und rollenden Pupillen den Kriegstanz Haka. Dieser zählt, neben den Schafen (bis zu 70 Millionen) und der Kiwifrucht, zu den bekannten Markenzeichen Neuseelands. Der Tanzgesang wird heute aber neben diesen traditionellen Treffen vor allem bei Sportereignissen aufgeführt. Egal ob das heimische Cricket-Team oder die als Helden verehrten Verteidiger der bedeutendsten Segel-Trophäe der Welt, des America's Cup, zum Wettkampf antreten - zuerst wird der Haka getanzt, das gilt für Maori wie Pakeha. Und wenn das Team der All-Blacks den Haka auf dem Rugbyfeld aufführt, scheint der halbe Sieg schon in der Tasche.

Auch die männlichen Gäste dürfen sich an diesem Abend im Haka üben.

Schon bald blähen sie im Takt die stolze Brust und grölen das bedrohlich klingende "Kamate", was so viel bedeutet wie "wird dich töten". (Das Wort findet sich auch auf Zigarettenpackungen aufgedruckt.) Früher sollte damit dem Feind, heute dem Publikum oder der gegnerischen Mannschaft das Muffensausen beigebracht werden. Die Bewegungen beim Haka erinnern an eine Mischung aus Tai-Chi, Sumo und Elvis bei einem seiner späten Auftritte in Las Vegas, und natürlich werden einige Ausrutscher der neuen "Stammesbrüder" zu plumpen Peinlichkeiten. Die Gastgeber verzeihen das aber auch bei einer so ernsthaften Angelegenheit wie dem Haka.

Nach dem abschließenden lauten "Hii"-Schrei befällt Müdigkeit die launige Runde, die stolzen Freizeitkrieger spüren ein kräftiges Ziehen in den Oberschenkeln. Und die zappeligen Kids wollen längst zum Rave.