Während eines Besuches bei einem Schriftsteller-Ehepaar in der Provence lernte ich deren kleine Tochter kennen. Es war Mitte Juli, und die Hitze verstärkte die ungewöhnlich sinnliche Atmosphäre des Hauses. Der Geruch von Lavendel lag über den Hügeln, und abends saß man lange vor dem Haus beieinander und plauderte unter den Sternen. Eines Morgens setzte ich mich an den Gartentisch, wo bereits für das Frühstück gedeckt war. Tee und Kaffee standen in einer Warmhalte-Kanne bereit. Das Pärchen war nicht da, machte vielleicht noch, wie des öfteren, einen kurzen Rundgang vor Croissant und Café. Die Kleine aber saß bereits bei Tisch und sah mich mit ihren unerhört tiefgrünen Augen an. Auf die Frage, ob sie etwas Tee haben möchte, sagte sie leise: "Milch - heiß und weiß". "Nun, dann machen wir Milch heiß", erwiderte ich. Wir gingen in die Küche und ich goss etwas Milch in einen kleinen Stieltopf. Dann warf ich einen Blick auf das Kind, das gebannt auf die weiße Flüssigkeit schaute. Es brachte mir eine Schale, als würde es ein Ritual vollführen. Ich füllte sie vorsichtig. Die Kleine ließ die Milch nicht aus den Augen. Als wir wieder im Garten saßen und die dampfende Schale vor ihr stand, sagte sie: "Milch ist ein flüssiger Kuss." Ich erschrak unwillkürlich vor der Direktheit des Kindes. Es tauchte den Zeigefinger in den Milchschaum und leckte ihn ab. Dann setzte es die Schale an die Lippen, schloss die Augen und trank bedächtig in langsamen, großen Schlucken. Mitunter machte es eine Pause, wo es nicht trank, die Schale aber immer noch eng an den Lippen hielt und beinahe unhörbar durch die Nase ein- und ausatmete. Nie mehr in meinem Leben habe ich den Ausdruck einer derart sinnlichen, konzentrierten und unschuldigen Hingabe gesehen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.5.2001, kredo)