Wien - An dem gesellschaftlichen Problem von Übergewicht und Fettsucht ändern "Abnehm-Pillen" nichts, für den einzelnen Adipösen aber können sie einen zusätzlichen Nutzen bringen. "In einer zwei Jahre lang dauernden Studie konnten wir bei Patienten, die mit Sibutramin behandelt wurden im Vergleich zu den Personen in der Placebo-Gruppe durchschnittlich 5,5 Kilogramm mehr Gewichtsabnahme erzielen", erklärte am Mittwoch bei einem Hintergrundgespräch der Präsident der internationalen Adipositas-Gesellschaft, Prof. Dr. Stephan Rössner (Stockholm) beim europäischen Fettsucht-Kongress in Wien. "Das Problem liegt nicht darin, dass wir bei unseren Patienten keine Gewichtsabnahme erzielen können. Das ist Problem liegt darin, den Gewichtsverlust dann beizubehalten", sagte Rössner. Das ist - für die Behandlung von Fettsüchtigen - auch der Hauptgrund für die Anwendung von Medikamenten. Die Pillen am Markt Hier gibt es derzeit international nur zwei Prinzipien: Die Substanz "Orlistat" (Xenical/Roche) hemmt im Darm selektiv Lipase-Enzyme und somit die Aufnahme von Fett aus dem Darm. In jüngster Vergangenheit wurde mit "Sibutramin" (Reductil/Knoll/Ebewe) auch in Österreich ein neues Medikament auf den Markt gebracht. Rössner: "Der Wirkstoff ist ein Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer. Er wirkt auf das Appetitzentrum im Gehirn und hat keine toxischen Probleme." Während einige ältere Abnehm-Pillen nach dem Bekanntwerden schwerster bis tödlicher Nebenwirkungen im Jahr 1997 vom Markt genommen wurden, habe sich "Sibutramin" bisher bewährt. Rössner: "In der so genannten Apfelbaum-Studie zeigten die Placebo-Patienten nach zwölf Monaten eine Gewichtszunahme um 0,5 Kilogramm, jene, die mit dem Medikament behandelt wurden, hingegen eine Reduktion um durchschnittlich 5,2 Kilogramm." Studie Erst vor wenigen Monaten wurde die unter Feder führender Mitarbeit von Rössner durchgeführte "STORM"-Studie mit "Sibutramin" veröffentlicht. Ein Monat lang hatten 600 Adipöse zunächst ausschließlich eine kalorienreduzierte Diät bekommen. Dann wurden 400 der Probanden in zwei Gruppen aufgeteilt: 100 erhielten zwei Jahre lang ein Placebo, 300 hingegen täglich zehn, 15 oder 20 Milligramm des Wirkstoffes. Der Experte vom Karolinska-Institut: "Mit Sibutramin erreichten wir eine gute Gewichtsabnahme um durchschnittlich 10,2 Kilogramm. In der Placebogruppe waren es minus 4,7 Kilogramm." Netto betrug der Unterschied also 5,5 Kilogramm. Zu Beginn der Untersuchung hatten die Probanden durchschnittlich 102 Kilogramm Körpergewicht gehabt. Der Appetit hemmende und die Kalorienverbrennung etwas steigernde Wirkstoff stabilisierte bei den Behandelten vor allem den durch die Diät erreichten Abnehmeffekt. "Übergewicht ist eine normale Reaktion auf eine abnormale Umwelt" Seidell, federführend in der internationalen Task Force zur Bekämpfung des Adipositas-Problems (Internatinal Obesity Task Force), weiter: "Im Durchschnitt bringen die Medikamente eine (zusätzliche, Anm.) Gewichtsreduktion um drei Kilogramm. Selbst wenn wir alle Fettsüchtigen in den Niederlanden mit den Arzneimitteln behandeln, werden wir nur ein paar Prozent weniger Adipöse haben. Wir müssen die Prophylaxe des Übergewichts und der Fettsucht voran treiben. In den USA hat man errechnet, dass pro Jahr rund 100 Milliarden US-Dollar aufgewendet werden müssen, um die mit dem Übergewicht verbundenen Gesundheitsprobleme zu behandeln." Dicke Kinder Die Situation ist ernst. Seidell: "In Großbritannien sind bereits 20 Prozent der Menschen fettsüchtig und 60 Prozent übergewichtig. Ein besonderes Problem stellen die Kinder dar. In Frankreich hat jedes siebente Kind Übergewicht. In Italien ist es bereits jedes fünfte Kind, sieben Prozent sind sogar adipös. Die Zahlen gehen überall auf der Welt in die Höhe, beispielsweise auch in Japan und im restlichen Asien sowie in China. In den Ländern am Golf sind bereits 40 bis 50 Prozent der Menschen fettsüchtig. In den USA steigt der Fettsüchtigen weiterhin an." In der Öffentlichkeit - und das gilt besonders für Kinder - werden Übergewichtige bzw. Fettsüchtige noch immer als Menschen außerhalb der Normalität eingeschätzt. Doch laut dem Fachmann ist die Sachlage gerade umgekehrt: "Wir sagen: 'Das übergewichtige Kind ist abnormal, wir müssen es 'modifizieren', wieder normal machen. Dabei ist das Übergewicht eine normale Reaktion auf eine abnormale Umwelt. Die Entwicklung ist völlig vorhersehbar." Die Faktoren Die Faktoren, die bei Kindern (und natürlich auch bei Erwachsenen) besonders mit der steigenden Zahl von Übergewichtigen und Fettsüchtigen in Verbindung zu bringen sind: - Immer weniger körperliche Bewegung - Immer mehr Zeit vor dem Fernseher, immer mehr Zeit vor Computerschirmen - Fast Food - Bewegung wird teuer (oft nur noch in künstlicher Atmosphäre möglich) Seidell: "Kinder können einfach nicht mehr auf die Straße Fußball spielen gehen. Sie müssen - mit dem Auto - wohin gebracht werden, um sich bewegen zu können. In den Schulen werden aus Einsparungsgründen fast in allen Ländern die Turnstunden reduziert. Der TV-Konsum ist extrem wichtig für die Entwicklung von Übergewicht. Kinder essen dabei zumeist. Wir ändern eine Gesellschaft mit vielen positiven Errungenschaften der Zivilisation in ein Leben vor dem Computer und mit rund um die Uhr erhältlichem Essen." Besonders arg: Weltweit wird immer häufiger schon bei 15-Jährigen "Altersdiabetes" (Typ-II-Diabetes) diagnostiziert. Das ist eine Folge des Übergewichts samt damit verbundener Fettstoffwechselstörungen. Die Betroffenen haben ein extrem hohes Risiko, schon nach wenigen Jahren an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu sterben. Unterschiede zwischen den Staaten Auch Österreich ist in den vergangenen Jahren von der Übergewichts- und Fettsuchtwelle erfasst worden: Mittlerweile sind laut Angaben des Instituts für Sozialmedizin der Universität Wien bereits rund elf Prozent der Österreicher adipös, weitere 40 Prozent übergewichtig. Experten wie der Wiener Stoffwechselfachmann und Kinderarzt Univ.-Prof. Dr. Kurt Widhalm haben bereits in den vergangenen Jahren vor oft schon krankhaftem Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen gewarnt. Wie ungleich die finanziellen Resourcen in der Werbung in diesen Belangen verteilt sind, bewies am Mittwoch beim Europäischen Fettsucht-Kongress in Wien der niederländische Sozialmediziner Jaap Seidell an Hand folgender Daten aus den USA: "Dort wurden 1998 ein bis zwei Millionen Dollar von staatlichen Stellen für die Propagierung einer gesünderen Ernährung mit mehr Obst und Gemüse sowie weniger Fett ausgegeben. Allein für 'Candy-Bars' waren es hingegen 50 Millionen Dollar, für Soft-Drinks 116 Millionen Dollar, und MacDonald's gab eine Milliarde Dollar für die Werbung aus." Ein besonderes Problem seien aber auch die Buffets in Schulen. Und weil vor allem den Ballungszentren der Erde die Umwelt mittlerweile - speziell für Kinder - fast schon absolut bewegungsfeindlich geworden ist, wird an manchen Orten mit schon skurril anmutenden Maßnahmen gegengesteuert. Der britische Experte Neville Rigby: "In Rio de Janeiro werden Straßen beispielsweise für zwei Stunden für den Verkehr gesperrt, damit die Kinder dort unter der Aufsicht von Security-Leuten im Freien spielen können." ... und zu schlechter Letzt auch noch Krebs Doch bei weitem nicht "nur" Herzkrankheiten und Diabetes werden die kommenden Generationen quälen, wenn sich die moderne und global um sich greifende postindustrielle Gesellschaft nicht sprichwörtlich am "Riemen" reißt. Seidell: "Früher hat man vor allem toxische Substanzen für die bedeutendsten ursächlichen Umweltfaktoren für Krebs angesehen, besonders das Rauchen und eine hohe Fettaufnahme mit der Ernährung. Doch mittlerweile wird anerkannt, dass Übergewicht bzw. Fettsucht nach dem Rauchen bereits die zweitwichtigsten Faktoren für die Entstehung von Krebs sind." Das Körperfett, das die Menschen weltweit zunehmend "anhäufen", ist nämlich besonders tückisch. Der niederländische Fachmann: "Das Fettgewebe ist ein wie eine Drüse arbeitendes 'Organ', das eine Menge zellwachstumsfördernder Hormone produziert." Diese wieder - unter speziellem Verdacht steht beispielsweise das Protein IGF (Insulin-like Growth Factor) - würden das Wachstum von Tumoren fördern. (APA)