Zum zweiten Mal nahm sich Frank Castorf eines Romans von Dostojewski an: Für die Festwochen inszenierte er "Erniedrigte und Beleidigte" als sinnenbetörende Variation des Container-Exhibitionismus. Ein Triumph, findet Cornelia Niedermeier . Irgendwann ist es schon ziemlich spät. Mitternacht oder so. Der schwarze Bungalow steht auf der schwarzen Bühne. Aus seinem Schlot quillt weißer Wasserdampf. Über den Riesenbildschirm, der auf dem Flachdach installiert ist, flimmern die Bilder von Industrieschloten. Im Schatten, auf dem Plastiksessel, sitzt der Mann mit dem Bauch und der Glatze. Er zündet sich eine Zigarette an. Blauer Dunst. Nichts weiter. Diesen Moment Ewigkeit erlebten Dreiviertel der Besucher von Frank Castorfs Bühnenadaptation des Dostojewski-Romans Erniedrigte und Beleidigte bei den Wiener Festwochen nicht mehr. Längst, das heißt in der Pause, nach drei Stunden bewegtesten Stillstands, hatten sie sich verabschiedet. Eines der Ereignisse dieses spektakulär unspektakulären Theaterabends nämlich liegt in seiner fatalen Ereignislosigkeit. Kein Erzählstrang hält Spannung. Keine Dramaturgie schafft klare Strukturen, Übersicht. Das alles kennt man bei Castorf. Neu ist die Gelassenheit, mit der er seine in ihrem exaltierten Exhibitionismus bis unter die Haut verletzlichen Schauspieler in einer endlose Kette der Belanglosigkeiten beobachtet. Eine Kamera überträgt ihre Gesichter auf den Bildschirm - wenn nicht gerade Werbezwischenschaltungen überlebensgroß von der Leinwand flimmern: "Essen gut - alles gut: Knorr". Erst kommt das Fressen, wann kommt die Moral? Wer hier an Big Brother denkt, denkt wohl so falsch nicht. Fünf Stunden beobachten wir die 13 Darsteller in und neben der Wohnungs-schachtel - live und per Bildschirm: dennoch - wenn auch Castorfs Dostojewski-Adaptation der vielleicht intelligenteste Kommentar zum Container-Voyeurismus, zu Schaulust und Scham ist seit Christoph Schlingensiefs Bitte liebt Österreich -Projekt im vergangenen Jahr, so ist er das keinesfalls offensichtlich. Jeder Versuch einer klaren Interpretation ist in ihrer dezidierten Grenzziehung bereits ein Scheitern - angesichts dieses Abends, an dem alles Bilder ist, Assoziation, sinnfreie Schönheit. Und Dostojewski? Was aber hat Castorfs Abend mit Dostojewskis Roman zu tun? Alles - nichts - und wieder alles. Alles: Wie in seiner ersten Dostojewski-Adaptation vor zwei Jahren, Dämonen , arbeitet Castorf nahezu ausschließlich mit dem Originaltext des Romans. Nichts: das Handlungsgerüst ist derart zersplittert, die sozialen wie moralischen Gegensätze, aus denen der Roman seine Konflikte herleitet, bis zur Unkenntlichkeit nivelliert, dass sich die Erzählung dem unvorbereiteten Zuschauer unmöglich erschließt. Schließlich alles: Wie schon in Dämonen transportiert Castorf die Essenz des Textes. Anders als bei diesem hochphilosophischen Thesenroman schrieb Dostojewski 1861, eben aus der sibirischen Gefangenschaft zurück und komplett bar Geldes, mit Erniedrigte und Beleidigte bewusst den lukrativen Quoten-Reißer: einen wilden Kolportageroman, der dem Publikum bot, was es suchte - Liebe, Tränen, Schmerz, Schillersche Idealisten, morallose Zyniker und hinweggeraffte Opferlämmer, üppigsten Reichtum und bittere Armut. Das alles vor dem Hintergrund der frühkapitalistischen Großstadt, schnell und effektvoll hingeworfen nach dem Vorbild Honoré de Balzacs und Eugène Sues. Als Quotenreißer Nummer eins offeriert heute seinerseits Big Brother dem Publikum vergleichbare Erzählungen aus dieser, laut Dostojewski, "unerträglichen Hölle sinnlosen und unmoralischen Seins". Castorfs fünfstündige Versuchsanordnung präsentiert sich als Teil III des theatralen Forschungsprojekts "Kapitalismus und Depression", samt Big Brother -Motto: "Erniedrigung genießen". Bert Neumanns Bühne zitiert ihren Vorgänger aus Dämonen : derselbe Barbie-Bungalow (damals vor Big Brother , wohlgemerkt!), in dessen Innerem Möbelhaus-stil-Wohnlichkeit samt Kaminfeuer. Das Schwimmbad ist nunmehr vereist, die mit Seifenlauge überschmierte Oberfläche bietet ausreichend Gelegenheit für Bewegungs-Variationen (die schönste: Kathrin Angerer und Martin Wuttke, auf dem Bauch roten Bonbons hinterherglitschend). Neu ist der auf dem Dach installierte Bildschirm, der - siehe oben - Bilder aus dem Container-Inneren überträgt, oder Werbung oder endlose Berliner Großstadt-impressionen (Gleise, Plattenbauten, Strommasten). Darin, darauf, davor - das hinreißendste, exaltierteste, herzzerreißend schamloseste Darstellerensemble, das sich seit Fassbinder im deutschen Sprachraum zusammenfand, der Abend bewies es ein weiteres Mal: die Frauen mit den rotesten Lippen, den längsten Beinen, den spitzesten Pfennigabsätzen, den schrägsten Perücken (Kathrin Angerer als Lolita-Waise Nelly, Jeanette Spassova, Astrid Meyerfeldt, Susanne Düllmann), die Männer mit den verknittertsten Gesichtern, den berückendsten Bauchansätzen, lockersten Hüftschwüngen, knappsten Unterhosen (Martin Wuttke als altjüngferlicher Schriftsteller Iwan Petrowitsch, Bernhard Schütz, Henry Hübchen, Hendrik Arnst, Milan Peschel). Fünf Stunden verspieltester, riskantester, extremster Selbstentblößung mit Text und Musik. Dass diese hochartistischen Darstellungsextremisten freilich in vieler Hinsicht das Gegenteil der Big Brother -Biederkeit produzieren, mag als Webfehler im (imaginierten) Konzept erscheinen: Frank Castorf bietet weniger Abbild als Gegenprogramm. Das schamlose Wagnis zur Lächerlichkeit. Oder: die betörende Anmut der Sinnlosigkeit. Hingehen, entspannen und: "Erniedrigung genießen". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30. 5. 2001)