Welt
Mit Mikroskop und Fernrohr
Die Synthesis-Sozialforscher in Wien erarbeiten überraschende Einblicke
Wien - Eine Webadresse war nicht zu finden, aber eine Reihe von Interneteintragungen, welche die Synthesis
Forschungsgesellschaft (SFG) in Wien nennen: in der Parlamentskorrespondenz, in Sitzungsprotokollen des Wiener Stadtrats, in
Studienberichten des Arbeitsmarktservices oder in einer aufsehenerregenden Meldung aus dem Jahr 1999: "Jeder 2. Österreicher
wechselt innerhalb eines Jahres den Job", heißt es da. Diese Überraschung hat eine stille Revolution ausgelöst; ebenso die
Forschungsmethode, die hier zum Einsatz kam. Wenn "jedes zweite Beschäftigungsverhältnis innerhalb eines Jahres beendet und
neu besetzt wird", bedeutet dies: Die traditionelle Rechnung "angebotene Stellen durch die Zahl der Arbeitslosen im Schnitt ist
gleich chancenlos" erweist sich als Milchmädchenrechnung. Das ist die eine stille Revolution; die andere: Die Analyse
berücksichtigte das Beschäftigungsverhalten von rund 330.000 Betrieben und etwa 3,5 Millionen Erwerbstätigen, d. h. die Totalität
des österreichischen Arbeitsmarkts. Mit anderen Worten: Hier handelt es sich nicht um Stichproben oder Hochrechnungen,
sondern um eine statistische Erfassung der Realität auf der Grundlage einer unvorstellbar großen (anonymen!) Informationsmenge
aus verschiedensten Datenbasen und deren wechselseitiger Verschneidung. Am Ende kommt aber nicht der gläserne Mensch
heraus, sondern die gläserne Gesellschaft, sozusagen ungetrübt von ideologischen Positionen und Projektionen. Denn die
Grundlage zu Analysen und Prognosen, die von der SFG für ihre zumeist öffentlichen Auftraggeber erstellt werden, liefert ja die
Aufbereitung zwar umfangreicher, aber bloß quantitativer Datenbände: die "Analyse ohne Text".
Sie seien zu teuer, als dass ihre Studien sang- und klanglos in den Schubladen der Auftraggeber verschwinden würden, und sie
bräuchten daher auch keine Öffentlichkeitsarbeit mit Internet-selbstdarstellungen und Erfolgsberichten, denn wer immer auch ihre
Arbeit in Anspruch nehmen wollte, hätte sie auch gefunden. So sagt es der Leiter des Instituts, der am Ende des Vorworts zu
einer Art Jahresbericht für 2000 bescheiden formuliert: "Für die Synthesis Forschungsgesellschaft: a.o. Univ.-Prof. Dr. Michael
Wagner-Pinter".
Also keine Homepage, dafür aber eine Internetsuche seitens der SFG; sie sucht "eine/n Datenbank-/Softwareentwickler/in" zur
Unterstützung des EDV-Teams. Große EDV-Kenntnisse sind Voraussetzung, schließlich geht es um Entwicklung solitärer
Software. Aber deutlich wachsen will das 15-köpfige Team nicht (mehr). Mit rund 20 Millionen Umsatz ist es in der Lage,
ungestresst von sonst so häufigen Budget- sorgen, wählerisch den eigenen Forschungsschwerpunkten nachzugehen. Über das
Institut selber gibt Wagner-Pinter zwar bereitwillig Auskunft, aber mit jener knappen Zurückhaltung, die ihn auch öffentliche Auftritte
auf das Nötigste reduzieren lässt. Viel mehr beflügelt ihn die Neugier an den Forschungsfragen, also die Tätigkeit als solche und
nicht das Drumherum. Wobei sich die Neugier zu - so scheint's - gleichen Teilen dem Wie und dem Was zuwendet; eine Haltung,
die wiederum auch von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geteilt wird - kooperatives Arbeitsklima ist Grundbedingung.
Hauptinteresse: Wohnen und Arbeiten
Die Hauptforschungsfelder, quantitative Analysen des Arbeitsmarkts und der Wohnsituation, haben sich nicht zufällig ergeben,
stellen sie doch die wesentlichsten Indikatoren für die soziodemographische Befindlichkeit der Gesellschaft dar. Und so ist es
auch nicht verwunderlich, dass von privaten Unternehmen über öffentliche Körperschaften bis hin zu den jeweiligen Regierungen
oder der EU ein breites Interesse an rascher "Informationsgewinnung" und an "Orientierungswissen" besteht, also an sachlichen
und nicht strategischen Prognosen. Das Spektrum umfasst "Betriebsgründungen, Auf- beziehungsweise Abbau betrieblicher
Personalstände, Erwerbskarrieren, Einkommenschancen, Lohn-und Gehaltsstrukturen". "Strukturen" ist das Stichwort: Die SFG
spielt (mittlerweile) auf der mikro- und makrostrukturellen Klaviatur: Aufgrund rund zwanzig Jahren Erfahrung mit EDV-gestützten
"Analysen ohne Text" lassen sich die verschiedensten Strukturen anzoomen, ohne dass wir die sich ständig verändernde
Gesamtstruktur aus den Augen verlieren. Das heißt: Die Relationen bleiben gewahrt, und zwar in den Dimensionen des Raums
(der Maßstäblichkeit) wie der Zeit (der Entwicklung). Oder noch anders: Wir können gewissermaßen mit dem Fernrohr und dem
Mikroskop in zeitlicher Übereinstimmung auf Beobachtung gehen. Für das Synthesis-Team ist das Alltag, denn es entwickelt die
"Datenbasen und Analyseschemata in Hinblick auf die rasche Beantwortung drängender Fragen im Rahmen von Projekten, deren
Laufzeit zuweilen bloß acht bis zwölf Wochen dauert". (DER STANDARD, Print-Ausgabe 29. 5. 2001)