Wer heute noch die Begriffe Entwicklung, Wandel oder gar Innovation mit dem Jazz in Verbindung bringen will - und einige haben es noch nicht aufgegeben -, der schielt notgedrungen hinüber zum Pop. Er ist seit Jahren jene Tankstelle, an der sich die ambitionierten Instrumentalisten des Jazz Stilsprit holen - in der Hoffnung, endlich mit der Jugend in Kontakt zu kommen, abzusahnen oder einfach nur einen Hauch von Frische in die müden Jazzglieder zu pumpen. Ob sie nun Steve Coleman, Courtney Pine oder Nils Petter Molvaer heißen - sie sind damit auf jenem Pfad, den Miles Davis, als er des Swingens überdrüssig wurde, einschlug, um dem Jazz eine psychedelische Rockbasis zu geben. Es war damals, Ende der 60er-Jahre, die letzte innovative Wende des Jazz (man mag noch John Zorns postmoderne Phase anfügen); und es war vielleicht das Eingeständnis, dass innerhalb der swingenden Welt eine Erneuerung von innen heraus nicht mehr möglich, vielmehr "nur" noch durch Verschmelzung mit anderen Stilen zu erreichen war. Fusion allerdings braucht jene Köpfe, die konzeptuell raffiniert genug sind, einen lebensfähigen Stil zu schaffen, der mehr ist als die Summe seiner Teile. Auch in dieser Hinsicht vermisst man Miles Davis heute. Er war jener Orpheus der traurigen Trompete, der all jene, die einen Dämpfer verwenden, zu Plagiatoren werden lässt. Und er hat nicht nur mehrere elementare Wendungen des Jazz eingeleitet oder vollendet (Cool Jazz, Hard Bop, modales Spiel). Er war abseits seiner improvisatorischen und kompositorischen Fähigkeit auch jener Bandleader, der an personellen Konstellationen bastelte, die notgedrungen spannende Ergebnisse zeitigten. Stilistische Erneuerung war ihm personelle Erneuerung. So inszenierte sich Davis eine juvenile Umgebung, in der er selbst unter "Druck" geriet. Das erste Quintett mit John Coltrane, den er wegen Drogensucht rauswarf, die ihm selbst nicht fremd war. Das zweite mit Herbie Hancock und Tony Williams. Und spätere Formationen im Geiste des Jazzrock (mit John McLaughlin, Joe Zawinul!, Chick Corea, John Scofield): Sie waren immer Experimentierlabors, bei denen Davis die Stilregeln vorgab und ansonsten beobachtete, was zwischen den "Jungs" passierte. Aktuelle Historie Eine neue Einspielung von Davis konnte stilbildend wirken - von wem erwartet man sich heute noch solche Überraschungen? Überhaupt: Auf welche Veröffentlichung wartet man zurzeit wirklich noch gespannt? Eben. Historismus ist Trumpf, eine Nachbearbeitung und Nacherzählung alter Geschichten. Davis hat es erfahren. Er verließ sein Label Sony, als man dort den Trompeter Wynton Marsalis engagierte: Der riskierte seither bestenfalls einen Blick zurück. Im Vergleich zu diesem Retro-Zeitgeist wirken die Wiederveröffentlichungen von Davis' (bei Sony) frisch. Wie eine Anklage der Geschichte an die Gegenwart. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26./27. 5. 2001)