Tim Berners-Lee könnte wahrscheinlich reich sein. Er wollte es nie. Auch berühmt ist er nicht gerne, aber dagegen lässt sich nichts machen, wenn man als "Erfinder des World Wide Web" gilt. Vor genau zehn Jahren und nach einigen Krämpfen um die Zuteilung der notwendigen Gelder stellte der Brite, der damals beim CERN, dem Europäischen Zentrum für Teilchenphysik in Genf, arbeitete, als erste Anwendung das CERN-Telefonverzeichnis ins Computernetz der Wissenschafter. Dieses beruhte auf Hypertextualität - also der Verknüpfung mit beliebigen anderen Dokumenten. "Eigentlich so, wie der Mensch auch denkt", sagte er einmal bei einem seiner wenigen Interviews. Seither steht hinter dem Kürzel HTML (Hypertext Markup Language) die vielleicht wichtigste Eigenschaft des World Wide Web, die es erlaubt, Webseiten zu erstellen und mit anderen zu verknüpfen. 1991 stellte Berners-Lee die Software kostenlos im Internet zur Verfügung. Der Student Marc Andreessen entwickelte 1993 daraus einen Browser namens Mosaic, den Vorläufer des Netscape Navigator. Und ab dann entwickelte sich alles rasant: die Zahl der Webserver, der Webuser und der publizierten Internetseiten. Wie es Berners-Lee, einem Mann mit schütterem blonden Haar und höflich-zurückhaltenden Umgangsformen, am liebsten ist, zieht er im Hintergrund weiterhin die Fäden in Sachen World Wide Web. Seit 1994 leitet er das World Wide Web Consortium W3C, den informellen Zusammenschluss von 170 Unternehmen und Institutionen. Hauptziel des W3C ist es, dass das Web "interoperabel" bleibt. Also: Jeder kann teilnehmen, und jedem bietet das Netz dasselbe - unabhängig von Software oder Rechner. Dabei geht es um beinharte Interessen, die der idealistische Wissenschafter auszutarieren hat. Schließlich sind alle namhaften Firmen in dem Konsortium vertreten, die teilweise lange nach Marc Andreessen die kommerzielle Bedeutung des Internet erkannten: Microsoft, Sun, Oracle. Gerade jetzt wieder befindet sich das Web in einer heißen Phase seiner Geschichte. Die unterschiedlichsten Geräte - vom Handy bis zum Alltagsgerät -, die alle Internetzugang bieten, kommen demnächst auf den Markt. Bei dieser Arbeit wird dem studierten Physiker von Kollegen und Beobachtern sehr viel diplomatisches Geschick attestiert. Berners-Lee könnte in vielen Fällen per Dekret "regieren", bevorzuge aber den konsensualen Weg. Dabei kommt der Direktor kaum selbst zum Surfen. Dazu habe er zu wenig Zeit, sagt er. Die nutzt der erklärte Familienmensch lieber für Ehefrau Nancy Carlson und seine beiden Kinder. Und wenn er schon einmal das Web nutzt, dann für Einkäufe - und zwar vornehmlich Bücher. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe 16. 5. 2001)