Karl Wagner: Es gibt eine wiederkehrende Auseinandersetzung in der Debatte über die Shoah. Es hat den Anschein, dass es ein Thema ist, das auch mit vielen Ge- und Verboten umstellt ist. Geoffrey Hartman: So ist es. Es gibt viele Tabus oder gab viele Tabus, aber alle diese Tabus werden gebrochen. Ich möchte offen sagen: Die Tabusetzung ist nur eine Provokation. Also wenn Adorno sagt, alle Poesie nach oder über Auschwitz ist barbarisch, wobei er bei barbarisch das Gegenteil von kulturfähig meint, ist das - vielleicht nicht, als er es gesagt hat - für die meisten, die das hören, einfach eine Provokation. Man versteht, dass da am Anfang Tabusetzungen waren, aber die sind vielleicht mehr defensiv, wenn sie nicht quasi theologisch sind. Und meine eigene Meinung ist, von unserem jetzigen Standpunkt: Die wirken einfach nicht oder wirken nur provozierend. Ich denke, man muss viel mehr, als man das vorher gemacht hat, nachdenken, wie man extreme Erfahrungen (und nicht nur die des Holocaust) bespricht, oder was man macht, da jetzt das Fernsehen alles ohne große Hindernisse uns vorstellt. Irgendwer hat gesagt, der Holocaust hat das Feuer vor die Türe gesetzt, nein, der Holocaust und das Fernsehen setzen das Feuer ins Haus. Wie geht man damit um? Besteht nicht eine Tendenz, dass das Emotionale sozusagen medial verwaltet wird als Melodram, als Sentimentalität? Hartman: Ja, ich meine, es gibt so etwas wie eine Geschichte der Sensibilität. Aber ich denke, da gibt's auch Konstanten in dieser Geschichte und die kann man zusammenbringen mit der Sozialgeschichte. Das Mileu von Wissen und Fühlen ist jetzt sehr verschieden - jetzt, wenn wir vom Westen sprechen - von dem um 1800. Ich würde nicht sagen, dass um 1800, als Wordsworth seine ersten Gedichte geschrieben hat, dass wir da eine Informationsexplosion gehabt haben. Nein, das kam später, aber man konnte schon spüren, dass da die ästhetische Aufnehmbarkeit, ich meine ästhetisch im großen Sinn, die Gefühlskapazität, dass das überlastet wird. Die Konzepte davon, worüber wir hier sprechen, kamen eigentlich durch die Ästhetik und durch eine Modifikation oder Elaboration einer neoklassischen Ästhetik. Wenn Sie an Lessing denken, wie er probiert hat, das Leiden oder das Hässliche zu relativieren, wenn er sagt, in der bildenden Kunst geht das nicht, weil der Eindruck zu schwer ist, und man muss nach dem griechischen Modell das Kriterium der Schönheit bewahren, aber in der Literatur kann man sich mehr erlauben, da sie eine zeitliche Kunst ist, und die Imagination wirkt dann anders. Sie gelten als einer der wichtigsten Repräsentanten der Dekonstruktion und in einer gewissen Weise könnte man sagen, der "längste Schatten" ist auch auf die University of Yale gefallen mit der so genannten Paul-de-Man-Affäre (Paul de Man hatte - wie erst nach seinem Tod bekannt wurde - im Zweiten Weltkrieg für die damals kollaborierende belgische Tageszeitung Le Soir geschrieben), und man könnte an diesem akademischen Fall auch etwas besprechen oder sehen, was als Instrumentalisierung des Holocaust bezeichnet werden kann. Die Dekonstruktion wurde aufgrund dieser biografischen Verstrickung von Paul de Man weggestellt. Sie haben eine sehr differenzierte Intervention gemacht, die in Ihrem Essayband "Minor Prophecies" nachgelesen werden kann. Hartman: Ich habe Paul de Man... pädagogisch haben wir zusammengearbeitet. Ich bin eigentlich kein Dekonstruktivist, nicht nur von der Gesinnung her, sondern weil ich die europäische Philosophie nicht so gut kannte. Ich meine, Derrida ist ein Philosoph, ein Fachphilosoph, wenn er auch mehr ist als das, und de Man kannte die europäische Philosophie sehr gut, aber ich bin so ganz ein Amateur in dieser Sache. Also das muss ich zuerst sagen, dass ich mich für diese Bewegung interessiert hatte, weil sie das ganze Niveau der Literaturkritik gehoben hat. Ich möchte das aber nicht als Dogmatik beschreiben, wie eine Kirchendogmatik. Ich konnte nie ganz die philosophischen Implikate verstehen, weil ich nicht genug weiß. Also in diesem Sinn bin ich kein Dekonstruktivist. Aber was mich beeindruckt hat, war, dass Derrida ein lesender Philosoph ist, dass er nicht die Philosophie benutzt hat, um das Lesen abzukürzen oder eine symbolische Logik zu formulieren, deren Ziel es scheinbar ist, wie öfters in der Philosophie, ohne Bilder und ohne Texte zu denken. Denn ich glaube, das ist nicht möglich, und wenn es möglich ist, will ich es nicht - als einer, der in die Literatur gefallen ist. In der Universität, in der Literaturwissenschaft hat der Dekonstruktivismus sehr, sehr langsam angefangen, weil man einfach nicht dessen philosophischen Kontext kannte. Als dann aber Derrida nach Amerika gekommen ist, und er war zehn, elf Jahre in Yale, nicht die ganze Zeit, aber immer für sechs Wochen oder so, hat es grade angefangen, dass man das verstanden hat, was da los ist. Und dann ist de Man gestorben und zwei, drei Jahre nachher war die Entdeckung von seinen Artikeln in Le Soir. Und da haben dann manche, die den Dekonstruktivismus nicht verstanden hatten oder vielleicht nicht wollten oder dachten, das ist irgendwie nihilistisch oder subversiv, warum, weiß ich nicht ganz, da haben sie das als ein Instrument, als eine Keule benutzt. Und es ist auch gelungen. Ich meine, Derrida hat noch seinen Ruhm, er kommt jedes Jahr nach Amerika und lehrt an zwei oder drei Universitäten, aber das hat mit Derrida zu tun, weil er ein sehr interessanter Denker und ein wunderbarer Pädagoge ist. Sie haben bei dem Problem der Darstellbarkeit auch danach gefragt, was Literatur leisten kann, was das private Zeugnis leisten kann. Und Sie haben davor gewarnt, Zeugnisse zu heiligen Dokumenten zu erklären. Sie haben gesagt, Zeugnisse bedürfen ihrerseits der Interpretation. Hartman: Ja, so ist es. Erstens, ich habe Ihre frühere Frage nicht direkt beantwortet, über das Wissen, das Verstehen und die Emotionalisierung. Da müsste ich zuerst sagen, dass ich denke, dass es kein neues Problem ist. Das Problem der Darstellbarkeit ist nur akuter, wenn man sich mit dem Holocaust und solchen extremen Erfahrungen abgibt. Aber für mich ist das Wichtige nicht, ob es darstellbar ist oder nicht, denn ich denke, wir haben die technische Kapazität, alles zu simulieren. Die Frage ist eine, wenn Sie wollen, pädagogisch-moralische; und zwar insofern: Wie sollen wir das machen, können wir noch? Es ist nicht eine Frage des Tabus, sondern, wie kann man sagen, der Enthaltung. Man muss da, was ich einen Schwellengeist nenne, entwickeln: dass man an der Schwelle, vor der Kreuzung, vor dem Übertritt sich bedenken muss, was man da macht, ob das das Richtige ist. Wie direkt man diese Phänomene beschreiben soll oder repräsentieren soll, das ist also eine Reflexion zu einer moralischen Sache, nicht eine Sache, ob man es kann oder nicht - man kann es nämlich. Also man muss die Wirkung bedenken. Aber ich gebe zu, dass diese Reflexion sehr schwierig ist. Es ist schwierig, Gebote oder Präskriptionen zu finden, die sagen, das sollst du, das sollst du nicht machen. Also im Ganzen machen wir, was wir machen können, und wir gehen so weit, wie wir gehen können. Aber das macht mich sehr unsicher, grade weil ich sehe, dass all die Simulakra, die Simulationen, einen gegenrealistischen Effekt haben. Wenn man sagt, wir sind halt einfach in einer solchen Welt und da müssen wir das akzeptieren, und da müssen wir halt realistisch sein, und wir beschreiben alles realistisch. Aber wenn diese Darstellung das Gegenteil dessen verursacht, was die Intention ist, da muss man sie doch bedenken. Wenn der Realitätseffekt zu stark ist, schwingt er um in etwas Fantastisches, und man glaubt nicht, was man sieht. Dann haben wir diese elektronischen Phantome, man schaut auf den Bildschirm und eine Art von Unglauben setzt ein. Man denkt, das sind nur Bilder, sind nur gemachte Bilder, und da kann man damit spielen. Also erst einmal davon abgesehen, dass der von Ihnen gerade beschriebene Effekt von den Revisionisten benutzt wird . . . Hartman: Das ist meine Verknüpfung , da haben Sie ganz Recht. Natürlich sind viele andere Motive in denen, die Revisionisten sind. Die meisten sind ganz klar Antisemiten. Aber der Antisemitismus selbst hängt meiner Meinung nach mit diesem Gefühl des Substanzlosen und der Furcht zusammen, dass die Welt ihre Moral und das, was man für real hält, sein Gewicht verliert. Also diese sozialen und pathologischen Phänomene des Revisionismus und Antisemitismus, denke ich, sind verbunden mit dieser Furcht vor der Substanzlosigkeit der modernen Welt. Ich sage dann aber gleich, dass das, was wir Entfremdung nennen, oder diese Furcht vor dem Verlust des Realitätssinns, dass das ganz natürlich in uns ist, und das ist etwas, das jeder spürt, da gibt's eine zivilisierte Form. Aber dies ist keine zivilisierte Form, das ist eine wilde und schlechte und schädliche Form von etwas, was ganz natürlich in uns vorkommt. Die Zeit vergeht, unsere vitale Kraft vergeht, wir sind sterblich . . . deshalb denke ich auch, dass das irgendwie mit dem Vitalismus zusammenhängt. Der Faschismus ist eine Form nicht nur des Nihilismus, sondern des Vitalismus. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe 12./13. 5. 2001)