Vor 3,3 Milliarden Jahren bot die Erde miserable Lebensbedingungen: eine unwirtliche, nahezu sauerstofffreie Atmosphäre und tödliches Bombardement solarer UV-Einstrahlung. Entsprechend dürftig die ersten Lebensformen: primitive Bakterien mit anaerobem - sauerstofffreiem - Stoffwechsel. Bis eines dieser Urlebewesen in einem schicksalhaften Entwicklungsschritt anfing, mithilfe von Licht Wassermoleküle zu spalten und mit Kohlendioxid (CO) energiereiche Kohlenhydrate herzustellen. Als Nebenprodukt entstand dabei Sauerstoff. So war die Photosynthese mit Hilfe von Wasser erfunden, die bislang effizienteste Form der Energieversorgung und Ausgangsbasis der gesamten weiteren Evolution. Bis heute bevölkern Cyanobakterien alle Ökozonen, von heißen Quellen über Meere, Seen und Flüsse bis zum nacktem Gestein der Kaltregionen. In der Masse meist blau (griechisch cyan, und daher auch ihr gängiger Name, Blaualgen) oder grün, geben sie Gewässern die charakteristische Farbe, nehmen aber auch andere Farben an. Sie stellen weltweit etwa 30 Prozent der Biomasse und sind als unterstes Glied der Nahrungskette wichtige Energiequelle für alle höheren Organismen, einschließlich der Spezies Mensch. Hausgemachte Katastrophe drohte Kaum aber hatten sie die Urmeere erobert, drohte schon die hausgemachte Katastrophe. Der selbstproduzierte hoch reaktive Sauerstoff wurde zum Umweltgift. Während das anaerobe Leben mit Rückzug in tiefste Ökonischen im Bodenschlamm oder den heißen Schloten der Meere reagierte, setzten die Cyanos an zum zweiten entscheidenden Sprung. Sie lernten, Sauerstoff zu Wasser zu reduzieren und erfanden - quasi als Umkehr der Photosynthese - die Atmung. Gegen die toxischen Nebenprodukte ihres Sauerstoff-Stoffwechsels entwickelten sie Enzyme, so genannte Peroxidasen und Katalasen. All diese genetischen Errungenschaften waren Voraussetzungen für die Entwicklung höheren Lebens. "Im ökologischen Gleichgewicht der Erde spielen die genügsamen Cyanobakterien - zum Leben reichen ihnen Wasser, Kohlendioxid und einige Minerale - eine gigantische Rolle", sagt der Biochemiker und Blaualgen-Forscher Christian Obinger. Sie produzieren lebenswichtigen Sauerstoff, helfen, die Ozonschicht zu erhalten, verwandeln 20 bis 30 Prozent des von allen Lebewesen zusammen produzierten Kohlendioxids - pro Jahr geschätzte hundert Milliarden Tonnen - in organische Substanz und fixieren Stickstoff. Erstaunlicherweise sind die Mechanismen, wie die Cyanos einst das Umweltgift Sauerstoff in den Griff bekommen haben, im Detail noch kaum erforscht. Enzyme als Waffen Ein Team von Wissenschaftern der Wiener BOKU unter Professor Christian Obinger hat sich die Anti-Sauerstoff-Strategie der bunten Anpassungskünstler zum Forschungssujet gemacht. Mithilfe von Geldgebern wie Wissenschaftsfonds und Nationalbank erkunden sie jene Enzymwaffen, die Blaualgen in ihrem Zellinneren gegen ihre gefährlichen Metaboliten (Stoffwechselprodukte), Wasserstoffperoxid und Sauerstoffradikale, einsetzen. In höheren Lebensformen als den Blaualgen bewirken Weiterentwicklungen dieser Enzyme vielfältige chemische Reaktionen, die nichts mehr mit der Entsorgung von Sauerstoffmetaboliten zu tun haben. So etwa bilden Pflanzen mit speziellen Peroxidasen ihr Skelett aus Lignin und erzeugen damit eines der häufigsten Biopolymere der Erde. Kampfstoffe Zum Schutz gegen Außenfeinde hat die Evolution begonnen, aus den Antisauerstoff-Enzymen und Wasserstoffperoxid Kampfstoffe herzustellen. Beim Menschen bilden sie die erste Verteidigungslinie - als Desinfektionsmittel auf der Haut, im Speichel oder in der Muttermilch. Im Blut gehen in der primitivsten Form der Immunabwehr randvoll mit Peroxidase gefüllte weiße Blutkörperchen gegen eindringende Viren oder Bakterien vor und überschütten sie mit tödlichem Oxidationsmittel. Da bei solchen Kampfaktionen auch umliegendes Gewebe in Mitleidenschaft gezogen wird und sich entzündet, beispielsweise bei Allergien, sucht die Pharmaindustrie nach Peroxidase-Hemmern. Von der Arbeit Christian Obingers, Novartis-Forschungspreisträger 2000, erhofft sie sich dazu wichtige Erkenntnisse. Ihm und seinem Team ist es erstmals gelungen, einige Sauerstoff-Entsorgungsenzyme der Cyanobakterien aufzuspüren und zu produzieren. Dahinter steckt ein aufwendiger Prozess: Das für die Enzymproduktion zuständige Gen wird identifiziert und sequenziert. Daraus wird die Aminosäuresequenz abgeleitet und, über gentechnisch zu Enzymerzeugern umprogrammierte Kolibakterien "exprimiert", das heißt per genetischen Befehl hergestellt. Die so in großen Mengen produzierten Enzyme dienen der eigenen Forschungsarbeit und werden an Firmen und Uniinstitute verkauft. Mit dem Erlös finanziert Obinger einen Teil seines teuren Laborgeräts. Neben der Pharmaindustrie könnte das neue Wissen über die Hydroperoxidasen der Cyanobakterien auch in der Papierproduktion - zum Entzug des störenden Lignins - Anwendung finden und bei der Kunststofferzeugung (Recycling). Und eines Tages, falls es auf der Erde wieder heiß wird, könnten die Cyanos sich als eine der letzten Lebensformen behaupten. (Johanna Geissler, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 08.05.2001)