Das Londoner Victoria & Albert Museum begeht den 100. Todestag von Königin Victoria - mit einer Ausstellung, die weder neue Fragen aufwirft, noch alte beantwortet. Standard-Mitarbeiterin Brigitte Voykowitsch fand sich vor dem unbefleckt verklärten Bild einer Ära wieder. London - Das Plakat zeigt Victoria vor einem dunklen, nur vage konturierten Hintergrund. Die Königin selbst trägt ein schwarzes Kleid und einen weißen Haarschleier. Ein einziger Farbtupfer leuchtet aus dem Bild, genauer gesagt der Fotomontage, hervor - es ist ein kleines rotes Handy, das sich Victoria ans Ohr drückt. Vieles hat die Frau erlebt, die 64 Jahre lang über Britannien herrschte, länger als jeder andere Monarch vor oder nach ihr. Wenn die Erfindung des Mobiltelefons auch erst aus der Zeit nach ihrem Tod im Jahre 1901 datiert, so war sie doch Zeugin der Anfänge der Telekommunikation - und eine begeisterte noch dazu. "Ich drückte auf einen elektrischen Knopf und sandte damit eine Nachricht los, die telegrafisch ins gesamte Reich verbreitet wurde", schwärmte Victoria. "Wirklich wunderbar" fand sie die "so genannten laufenden Bilder." Wer weiß, was sie heute für ein Technikfreak wäre, ausgestattet mit weitaus mehr als nur einem Handy. Das Bekenntnis zur Innovation steht im Mittelpunkt der Ausstellung, mit der das Victoria & Albert Museum in London nun den hundertsten Todestag der Königin begeht. Ein neues Britannien Nach Ansicht der Kuratoren zeichnete sich deren Epoche nicht bloß durch die rasanten Neuerungen aus, zwischen der Thronbesteigung der damals erst 18-jährigen Victoria und dem Jahr 1901 wurde regelrecht ein neues Britannien erfunden, wie der Titel der Schau kundtut, Inventing New Britain: The Victorian Vision. Doch wo beginnen, was miteinschließen und was weglassen bei der Behandlung einer so einschneidenden Ära? Die Kuratoren haben sich für eine Gliederung in fünf Themenbereiche entschieden. Allen voran steht "Die Monarchie", schon zu Victorias Zeiten äußerst umstritten, zum Ende ihrer Jahre aber als volksnah und medienfreundlich gefestigt. Der Abschnitt "Gesellschaft" befasst sich mit Kindern als "unabhängigen Wesen und Konsumenten" einer wachsenden Spielzeugindustrie, den Bestrebungen der Frauen nach Selbstbestimmung sowie mit neuen Freizeitgestaltungen und Riten. "Natur" betont den Drang der Viktorianer zu sammeln und zu kategorisieren, aber auch die Unruhe, die ein gewisser Herr Darwin auslöste. "Die Welt" nennt sich euphemistisch jener Teil, in dem es um das Bestreben der Briten geht, sich die Erde und möglichst viele ihrer Völker untertan zu machen. Denn überzeugt von sich waren sie, diese Viktorianer, oder jedenfalls ein Teil von ihnen, auch dank der Fortschritte in der "Technologie", einer nicht enden wollenden Kette von Entdeckungen und Erfindungen, vom Telefon bis zum Maschinengewehr. Der Technologie ist der allergrößte Raum gewidmet, womit auch Platz bleibt für einige Hinweise auf die Kehrseite von Industrialisierung, Welthandel und Fortschritt, wenn etwa ein Gemälde in Lumpen gekleidete Obdachlose darstellt, wie sie vor einem Armenhaus Schlange stehen, um für eine Nacht Quartier zu bekommen. Doch es sind, wie gesagt, lediglich Hinweise. Von einer kritischen Auseinandersetzung mit der viktorianischen Epoche haben die Kuratoren Abstand genommen. Die Sicht eines Charles Dickens teilen sie schon gar nicht. Ganz abgesehen davon, dass Literatur und Kunst - außer Gemälden zum Zwecke der Illustration -, Architektur und Religion, aber auch die britische Innenpolitik schlicht ignoriert werden. Schlimmer noch: Auch die für viele britische Kommentatoren so vordringliche Frage nach der Moral bleibt unbeantwortet. Waren die Viktorianer nun wirklich schrecklich prüde und verklemmt? Oder versteckt sich hinter ihrem unablässigen Drang zum Moralisieren nicht eher eine allzu freizügige und sündige Realität? Was, bitte, spielte sich tatsächlich hinter ihren Schlafzimmertüren ab? Bis heute, merken frustrierte Analysten an, ermangelt es an einer Entdeckung - der von Texten in Form von Tagebuchaufzeichnungen, Briefen oder was immer -, die darüber Aufschluss geben könnten. Skandalöse Fußnoten Die Ausstellung vermittelt wenig und Widersprüchliches: in unzählige Kleiderschichten verpackte Menschen am Strand hier, eine Statuette der nackten Lady Godiva, die Victoria ihrem Gatten Prinz Albert zum Geschenk machte da, und einen Verweis auf "die skandalös erotischen Fußnoten" in einer Übersetzung der Arabischen Nächte dort. Den Reim drauf muss sich jeder selbst machen, wie überhaupt auf diese Schau, die, was mit Bildern, Exponaten und deren Begleittexten nicht zu erfassen ist, in kurze an Wänden und Säulen angebrachte Notizen verpackt: "1863 Eröffnung der Londoner U-Bahn", "1848: Zulassung von Frauen an der Londoner Universität" oder "1888: Gründung der englischen Fußballliga". Welches Bild das insgesamt ergibt, wie denn die Ära von Queen Victoria nun zu bewerten und was ihr nachhaltiges Erbe sei, darauf verweigern die Kuratoren eine Antwort. Mit dieser Frage müssen sich die Briten auch weiterhin selbst herumschlagen. (Bis 29. Juli)