Wien - In seinen Büchern "Der Baum der Erkenntnis" und "Was ist erkennen?" entwickelte der chilenische Professor für Biologie und Neurobiologie seine Theorie der Autopoiesis, die großen Einfluss auf Kybernetik, Konstruktivismus und Systemtheorie gewann. Am 1. Weltkongress für Systemisches Management in Wien präsentierte er diese Woche vor über 1200 Teilnehmern seine irritierenden Thesen. STANDARD: Ihre Theorie der Autopoiesis spricht von geschlossenen Systemen, die zugleich offen sind. Wie erklären Sie diese scheinbare Paradoxie? Maturana: Die Theorie der Autopoiesis unternimmt den Versuch, lebende Systeme zu erklären. Wenn man Zellen physiologisch betrachtet, zeigt sich, dass sie molekulare Netzwerke konstituieren, in denen jede Zelle mit jeder anderen interagiert. Solche molekularen Netzwerke sind geschlossen, was den dynamischen Status betrifft, jedoch notwendig offen für den Fluss von Energie. Hier liegt jedoch keine Paradoxie vor. STANDARD: Auch das menschliche Gehirn ist ein solches zugleich offenes und geschlossenes System? Maturana: Das Gehirn ist ein geschlossenes Nervensystem, das seine Prozesse immer selbst ausführt, aber offen für den molekularen Fluss. Das sind zwei völlig unterschiedliche Felder der Betrachtung, die sich nicht widersprechen. Viele Systeme sind geschlossen in der Organisation, aber offen in der Realisation. Ein gesellschaftlicher Klub ist ein Netzwerk von Konversationen. Wer Mitglied sein will, muss die Verhaltensregeln des Klubs akzeptieren. Der Klub ist geschlossen als Netz von Konversation, aber offen für den Wechsel seiner Mitglieder. Ein Fluss fließt offen in einem geschlossenen Bett. STANDARD: Welche Auswirkungen hat Ihre Theorie auf die Praxis, wie Management, Technologie oder Kunst? Maturana: Dazu kann ich wenig sagen. Jede Theorie hat ihren Einfluss, den der Rezipient selbst bestimmt. Aber ich spreche von lebenden Systemen, die historische Systeme sind und daher im permanenten Wandel. Technologie ist nur ein Werkzeug. Es besteht die Tendenz, Menschen in Roboter zu verwandeln, die nur das tun, was man ihnen sagt. Die Tätigkeit des Kochens bleibt die Tätigkeit des Kochens, ob vor hundert Jahren oder heute. Auch wenn es Menschen geben mag, die ohne Mikrowelle nicht mehr leben können. Wir müssen Technologie in freier Verantwortung so einsetzen, dass sie dem Menschen nutzt und nicht umgekehrt. STANDARD: Sie haben mit dem deutschen Systemtheoretiker Niklas Luhmann drei Monate in Bielefeld zusammengearbeitet. Er bezieht sich in seinem Werk zentral auf ihr Konzept der Autopoiesis. Was halten Sie von seiner Theorie? Maturana: Ich denke nicht, wie er dachte. Er denkt über soziale Systeme als ein Netzwerk von Kommunikationen. Und er schließt menschliche Lebewesen aus seiner Theorie aus. Ich glaube nicht, dass man sich in der Theorie sozialer Systeme ausschließlich auf die Koordination von Kommunikationen beziehen kann, sondern dass es bei sozialen Systemen um die Koordination der Koordination von menschlichem Verhalten geht. Gespaltenes Verhältnis zu Luhmann Die Zusammenarbeit mit Luhmann war höchst interessant und er hat meine Arbeit über weite Grenzen hinaus bekannt gemacht, aber ich stimme mit seiner Theorie nicht überein. Für mich bedeutet es einen Verlust, wenn menschliche Lebewesen aus der Theorie sozialer Systeme ausgeschlossen sind. (DER STANDARD, Print-Ausgabe 4. 5. 2001)