Am Anfang hatte einer noch Humor: In der überfluteten Hauptstraße von Abbeville prangt ein bereits verwittertes Schild mit der Aufschrift "Venedig". Das stehende Wasser ist eine braune Brühe, ab und zu treibt Ölschlick darauf, Abfall oder ein Vogelaas. Es herrscht Totenstille. Es regnet einmal nicht - eine Ausnahme seit letztem Herbst. Raymonde Legris nutzt das, um auf dem Steg vor ihrem Einfamilienhäuschen Bohnen zu schneiden. Die 76-jährige Witwe hat keinen Strom, keine Heizung, kein heißes Wasser, und acht ihrer 15 Hühner sind in der ersten Nacht der Überschwemmung (vor rund einem Monat) ertrunken. Seit dieser Nacht leben die Bewohner von Abbeville und 116 weiteren Gemeinden entlang des Somme-Flusses mit einem Wasserpegel von bis zu 1,8 Meter Höhe. Bis Juni, ja gar bis Juli werde der Wasserpegel kaum sinken, prophezeien die Hydrologen. Es hat zu viel geregnet in den letzten sieben Monaten. Die Somme tritt über die Ufer, und die Böden sind wie ein voller Schwamm, können kein Wasser mehr aufnehmen. Immer wieder müssen erschöpfte Bewohner in die psychologische Anlaufstelle für die Überschwemmungsopfer gebracht werden. Viele Leute stecken so lange in ihren Gummistiefeln, bis sie Fußpilz bekommen. Die von den Behörden genannte Erklärung mit dem übersättigten Grundwasser glaubt in Abbeville niemand. Alle verdächtigen die Regierung im fernen Paris, die Wasser der Seine via Canal du Nord in die Somme umgeleitet zu haben, um eine Überflutung der Hauptstadt zu verhindern und deren Olympia-Kandidatur zu retten. Blanker Unsinn, erwidern die staatlichen Wasseringenieure, aber die Betroffenen lassen sich nicht beruhigen: Als Premier-minister Lionel Jospin Mitte April der Notstandsregion einen Besuch abstattete, wurde er ausgebuht und musste Abbeville fluchtartig verlassen, weil ihm die lokale Jägerzunft einen speziellen "Empfang" bereiten wollte. Die Folgekosten der Langzeitüberschwemmung sind unabsehbar - abgesehen vom Tourismus der ganzen Picardie, der fast zum Erliegen gekommen ist, obwohl nur das Somme-Gebiet betroffen ist. Angesichts der noch nie da gewesenen Situation wagen die Versicherungen noch keine Schadensschätzungen. Mehr als hundert Gemeinden sind zum Notstandsgebiet erklärt worden, was ihnen später kollektive Entschädigungen garantiert. Aber davon spricht noch niemand. Zuerst muss das Wasser weg. (DER STANDARD, Print-Ausgabe 4. 5. 2001)