Sussex/Wien - Mit Marie Jahoda, die am Sonntag in Sussex starb, verlieren nicht nur die Sozialwissenschaften eine herausragende Persönlichkeit: Jahoda, die zeit ihres Lebens unter ihrem Mädchennamen bekannt war, wurde am 26. Jänner 1907 in Wien geboren. Ihre Eltern gehörten zum assimilierten jüdischen Bürgertum, ihr Onkel war jahrelang der Verleger der Fackel .

Vor allem wurde in Wien ihr politisches Weltbild nachhaltig geformt. Aus ihrer Heimatstadt wurde sie im Alter von 30 Jahren vertrieben - nicht von den Nazis, sondern vom christlichen Ständestaat, dem sie als Mitglied der illegalen Revolutionären Sozialisten ein hochverräterischer Dorn im Auge war.

Während ihrer Wiener Jugend beteiligte sich Jahoda so ziemlich an allem, wofür sich damals linke Jugendliche begeistern konnten. Noch als Schülerin focht sie für die Koedukation, später absolvierte sie ein Psychologiestudium und machte die Ausbildung zur Volkschullehrerin.

Sie arbeitete als Bibliothekarin im Karl-Marx-Hof, organisierte und leitete Ferienkolonien. Vor allem aber war sie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann, dem Psychologen Paul F. Lazarsfeld, der später in New York einer der berühmtesten Soziologen werden sollte, an der ersten außeruniversitären Einrichtung für Sozialforschung beteiligt, der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle.

Als 25-Jährige verfasste sie 1932/33 den Text jener Studie, die zur berühmtesten soziologischen Arbeit aus und über Österreich werden sollte: Die Arbeitslosen von Marienthal. Die Erstausgabe erschien ohne Nennung der Autoren, der Verleger fürchtete, dass die jüdischen Namen unpassende Aufmerksamkeit hervorrufen würden. Die Anerkennung für diese bahnbrechende Studie ernteten die Verfasser, neben Jahoda trugen Lazarsfeld und Hans Zeisel zum Buch bei, erst im Exil, in das sie (wie viele ihrer Freunde und Kollegen) vertrieben wurden. In Österreich ist Jahoda bis heute zu Unrecht nur wegen dieses Buches bekannt.

Nach ihrer Ausweisung aus Österreich flüchtete sie nach England, wo sie bis Kriegsende lebte. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit war sie in der sozialdemokratischen Exilpartei aktiv und half anderen, erst später Geflüchteten. Bei Kriegsende streckte sie ihre Fühler nach Wien aus, erntete aber von der damaligen SPÖ-Führung nichts als blanke Ablehnung. Jahoda ging daraufhin in die USA, wo sie innerhalb kurzer Zeit eine bemerkenswerte akademische Karriere absolvierte.

Heikle Themen

Zuerst half sie dem exilierten Frankfurter Institut bei der Arbeit an der groß angelegten Vorurteilsstudie, danach arbeitete sie kurze Zeit im Bureau of Applied Social Research (dem von Lazarsfeld geleiteten New Yorker Gegenstück zur Forschungsstelle) und erhielt schließlich eine Professur für Sozialpsychologie an der privaten New York University in Manhattan. In ihren Studien scheute sie nicht vor politisch heiklen Themen zurück: Das damals sehr kontroversielle Thema der Rassenintegration, die Auswirkungen der von Joseph McCarthy initiierten Hetze gegen Subversive, vermeintliche und tatsächliche Kommunisten machte sie ebenso zum Thema ihrer Forschungen, wie sie darüber schrieb, was zu "positive mental health" - Zufriedenheit und Weltvertrauen - beizutragen wäre. Trotz ihrer Erfolge in den USA verließ sie diese Ende der 50er-Jahre, weil sie sich nochmals verheiratete und ihr zweiter Mann als Labour-Abgeordneter weniger leicht das Land wechseln hätte können.

Wieder in England, wurde sie als erste Frau als Gründungsprofessorin für Sozialpsychologie an die neu gegründete Universität von Sussex berufen, wo sie weit über ihre Emeritierung hinaus aktiv blieb. Sie veröffentlichte eine Studie über Freud und die akademische Psychologie, studierte Probleme von Flüchtlingen aus Uganda und griff nach dem neuerlichen Auftreten von Massenarbeitslosigkeit ihre Studien zu diesem Thema wieder auf.

In zahllosen Artikeln argumentierte sie, dass der Verlust von Arbeit auch dann noch schmerzvolle Folgen für die Betroffenen zeitigt, wenn die materielle Versorgung von Arbeitslosen ausreichend ist.

In all diesen Jahren interessierten sich weder das offizielle Österreich noch dessen Universitäten für Jahoda und ihr Werk. Österreich besuchte sie damals wegen seiner Berge und der Walderdbeeren. Erst eine jüngere Generation entdeckte sie und andere aus der Generation der Vertriebenen.

Und erst als diese Jüngeren selbst in die Jahre und damit in höhere Positionen kamen, wurden Jahoda in Österreich Ehrungen zuteil. Sie ließ sie äußerlich mit Gelassenheit über sich ergehen und freute sich doch darüber, dass sie hier noch ein Publikum gefunden hatte - war ihr Jugendtraum doch der, Erziehungsministerin eines sozialistischen Österreich zu werden.

Es wird schwer sein, Marie Jahodas sachliche Sozialwissenschaft, die weiß, dass die wirklichen Probleme vom Leben selbst gestellt werden, fortzuführen. Auf Deutsch liegt ein Sammelband mit ausgewählten Schriften Jahodas vor: Sozialpsychologie der Politik und Kultur, Graz/Wien: Nausner & Nausner 1994.

Christian Fleck ist Dozent am Institut für Sozialwissenschaften in Graz.

(DER STANDARD, 2.5.2001)