Zwei Mädchen aus Bill Brandts Serie "England, Home and Darkness": Wer in Stepney 1939 die Straße mustert, hat an einem noch trockenen Februartag genug Grund zur Zurückhaltung. Die zwei am Fenster in gleich geschnittenen kurzen, lang gestreiften Sommerkleidern wirken wie die beiden Gläser auf dem Buffett neben ihnen ebenso ähnlich wie grundverschieden. Die wenig Ältere mit dem Verband ums rechte Knie hat ihren Blick gezielter auf das Pflaster von Stepney gerichtet. Die Kleinere ist eher verlockt, hinunterzulaufen und den fremden Katzen nachzujagen, aber die werden vermutlich ohne sie auskommen müssen. Die Große hat wenig Lust, scheint auf längere Sicht mit dem Nach- mittag und dem, was daraus werden könnte, beschäftigt. Kaum jemand bedenkt sie in diesem Augenblick oder fordert sie auf, etwas mit sich zu beginnen. Väter, Mütter, Schwestern, Brüder hat Bill Brandt weggelassen. Und "Tinker, Tailor, Soldier, Sai- lor" sind noch ebenso wenig in Sicht wie "Richman, Poorman, Ploughboy, Thief". Was soll mit den beiden geschehen? Oder präziser: Was geschieht mit ihnen in diesem Augenblick? Noch sind sie für sich. Bill Brandt, der für Ezra Pound und T. S. Eliot (1928 und 1945) den entsprechenden Moment fand, befasste sich 1939 umso lieber mit den Girls von Stepney. Wäre es fünf Jahre später schon zu spät gewesen? Sie sind dann fast vierzehn. Hätten sie dann schon entdeckt, was ihnen Stepney und ihre Unbefangenheit noch eine Weile vorenthält: mindestens die Jungen von Stepney und was man von ihnen halten soll? Die ersten Querelen, Ansätze von schärferen Umrissen. Und hoffentlich noch nicht die Befürchtung, dass es mit Stepney schon getan sein könnte. Oder mit seiner exakten Vergrößerung.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 4. 2001)