(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 4. 2001)
Literatur
Ein Fenster zum Hof
...im "Journal des Verschwindens" (XXVI)
Zwei Mädchen aus Bill Brandts Serie "England, Home and
Darkness": Wer in Stepney 1939 die Straße mustert, hat an einem noch
trockenen Februartag genug Grund zur Zurückhaltung.
Die zwei am Fenster in gleich geschnittenen kurzen, lang gestreiften Sommerkleidern
wirken wie die beiden Gläser auf dem Buffett neben ihnen ebenso ähnlich
wie grundverschieden. Die wenig Ältere mit dem Verband ums rechte Knie hat
ihren Blick gezielter auf das Pflaster von Stepney gerichtet. Die Kleinere ist eher
verlockt, hinunterzulaufen und den fremden Katzen nachzujagen, aber die werden
vermutlich ohne sie auskommen müssen. Die Große hat wenig Lust,
scheint auf längere Sicht mit dem Nach- mittag und dem, was daraus werden
könnte, beschäftigt.
Kaum jemand bedenkt sie in diesem Augenblick oder fordert sie auf, etwas mit sich
zu beginnen. Väter, Mütter, Schwestern, Brüder hat Bill Brandt
weggelassen. Und "Tinker, Tailor, Soldier, Sai- lor" sind noch ebenso
wenig in Sicht wie "Richman, Poorman, Ploughboy, Thief".
Was soll mit den beiden geschehen? Oder präziser: Was geschieht mit ihnen
in diesem Augenblick? Noch sind sie für sich.
Bill Brandt, der für Ezra Pound und T. S. Eliot (1928 und 1945) den
entsprechenden Moment fand, befasste sich 1939 umso lieber mit den Girls von
Stepney. Wäre es fünf Jahre später schon zu spät gewesen?
Sie sind dann fast vierzehn. Hätten sie dann schon entdeckt, was ihnen Stepney
und ihre Unbefangenheit noch eine Weile vorenthält: mindestens die Jungen von
Stepney und was man von ihnen halten soll? Die ersten Querelen, Ansätze von
schärferen Umrissen. Und hoffentlich noch nicht die Befürchtung, dass es
mit Stepney schon getan sein könnte. Oder mit seiner exakten
Vergrößerung.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 4. 2001)
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 4. 2001)