Wirtschaft
Aus Aktien die Zukunft lesen - Von Edmund S. Phelps
Aus Aktien die Zukunft lesen
Warum gibt es wirtschaftliche Aufschwünge und Pleiten, diese langen Phasen zwischen Expansion und Verlangsamung der
Wirtschaft? Traditionellerweise konzentrieren sich diesbezügliche Erklärungen auf eine mangelhafte Geldpolitik. Meine
Untersuchung geht allerdings davon aus, dass es sich bei diesen Auf- und Abschwüngen für gewöhnlich um strukturelle
Erscheinungen handelt, ein Ergebnis starker Erwartungen hinsichtlich der künftigen Produktivität und Rentabilität - wie etwa in den
kräftigen Aufschwüngen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in den 60er- und wieder in den 90er-Jahren.
Unternehmer haben für die mittelfristige Zukunft neue Gelegenheiten für eine rentable Verwendung von Kapital vorhergesehen.
Dementsprechend haben sie die Investitionen auf dem Gebiet neuer Einrichtungen, neuer Kundenbindungen und auf dem Gebiet
der Neueinstellungen erhöht. Die meisten Geschäftsinvestitionen führen über nicht monetäre Kanäle zu einer höheren
Beschäftigungsrate - ohne jegliche inflationäre Überhitzung.
In der Untersuchung, die ich vor kurzem zusammen mit Gylfi Zoega durchgeführt habe, gehen wir davon aus, dass solche
Verschiebungen in der Erwartungshaltung - und damit eben auch hinsichtlich der künftigen wirtschaftlichen Expansion - schon im
Voraus dadurch erkannt werden können, dass man sich die verräterischen Verschiebungen auf dem Gebiet der Aktienmärkte
ansieht. In den Aktienpreisen kann eine Art Stellvertreter für die Erwartungen und das Verhalten von Geschäftsleuten gesehen
werden. Es gibt mehr als ausreichende Beweise dafür, dass einer anhaltenden Verschiebung auf dem Gebiet der Aktienpreise eine
graduelle Veränderung der Arbeitslosenrate folgt.
Höhe der Aktienpreise
Zumindest seit dem Jahr 1900 gab es in den USA und in Großbritannien ein ausgesprochen langfristiges Verhältnis zwischen
Aktienpreisen und der Beschäftigungsrate; in einem etwas später einsetzenden Zeitraum war dasselbe Phänomen auch in
Frankreich zu beobachten. Seit 1960, dem Zeitpunkt also, da Zahlen für noch mehr Länder der OECD (Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) verfügbar waren, besteht dieselbe statistische Verknüpfung in allen diesen
Ländern außer Schweden: je höher die Preise der Aktien, desto niedriger die Arbeitslosenquote.
Wie stark diese Beziehung tatsächlich ist, hängt davon ab, wie es um die Wirtschaftssituation des betreffenden Landes bestellt
ist. Einige der OECD-Länder verhielten sich über einen langen Zeitraum hinweg verhältnismäßig kapitalistisch, so beispielsweise
die USA, Großbritannien, die Niederlande, Kanada und Australien. Demzufolge ist es innerhalb dieser Länder für neu gegründete
Unternehmen relativ einfach gewesen, Zugang zu (sowohl einheimischen als auch ausländischen) Finanzierungsmöglichkeiten zu
finden und ohne größere Hindernisse Zutritt zu einer großen Bandbreite von Industrien zu erhalten bzw. diese wieder hinter sich zu
lassen.
Andere Länder dagegen waren für eine lange Zeit eher körperschaftlich organisiert, man denke nur an Italien, an die Bundesrepublik
Deutschland, an Österreich oder an Japan. Diese Länder verfügen über ein eher geschlossenes System großer Korporationen und
mächtiger Gewerkschaften, die durch eine interventionistische Regierung in Zusammenarbeit mit großen Banken lose beaufsichtigt
werden. Statistische Zahlen belegen, dass es in kapitalistischen Ökonomien - im Gegensatz zu korporatistischen - unter der
Voraussetzung derselben Veränderungen von Aktienpreisen zu einer größeren Verschiebung im Bereich der Beschäftigungsrate
kommt.
Verknüpfung mit . . .
Mit welchen besonderen Einrichtungen der Arbeits-und Kapitalmärkte ist nun die Reaktion auf die Aktienpreise so sehr verknüpft?
Wir haben angenommen, dass empfänglichere Ökonomien über weniger Schutzvorkehrungen hinsichtlich der Beschäftigung von
Arbeitnehmern verfügen und demzufolge auch weniger Unternehmer davor zurückschrecken, neue Firmen zu gründen; und dass sie
sich durch eine weniger die gesamte Industrie oder die gesamte Wirtschaft umfassen- de Lohnverhandlungspraxis auszeichnen,
was Unternehmer im selben Maße abschrecken würde. Die Statistik belegt, dass die am meisten empfänglichen Ökonomien der
OECD gerade diesbezüglich Punkte sammeln konnten.
Länder, die hinsichtlich der Empfänglichkeit in Bezug auf die Aktienpreise nur wenig Punkte sammeln konnten, neigen auch dazu,
auf der OECD-Liste der bürokratisch restriktiven Länder einen der eher oberen Plätze einzunehmen. Wir haben in unserer
Untersuchung den Fortschritt des Aktienmarktes eines jeden Landes an der Höhe der Aktienmarktkapitalisierung im Verhältnis
zum Bruttonationalprodukt des Jahres 1988 gemessen. Dabei haben wir Folgendes herausgefunden: Je größer der Grad der
Kapitalisierung war, desto größer war auch die Empfänglichkeit der Beschäftigungsrate für die Situation der Aktienpreise. Mit
diesen Zahlen und Informationen über die Kapitalisierungsrate hätte man vorhersagen können, welche der OECD-Ökonomien in den
späten 90er-Jahren einen Aufschwung erleben würde.
. . . Wirtschaftsmodell
Sollte sich meine These - nämlich die Annahme, dass die grundlegende Ursache für große Aufschwünge in kapitalistischen
Ökonomien in den vergangenen Jahrzehnten in einer strukturellen Verschiebung der zu erwartenden künftigen Rentabilität zu
suchen ist - als richtig erweisen, so muss man sich die Frage stellen, was diese These für die Wahl eines Wirtschaftssystems
sowie für die wirtschaftliche Stabilisierung bedeuten kann.
Zahlreiche westliche Nationen reagieren auf einmal wahrgenommene Mängel mit dem Rückzug aus dem Kapitalismus, was sich in
einer zunehmenden Einstellung von Beschäftigten im öffentlichen Sektor, in erhöhten öffentlichen Ausgaben und einer wachsenden
Steuerung des privaten Sektors durch die öffentliche Hand äußert. Zu den Ländern, die in der Vergangenheit eine solche Politik
verfolgt haben, gehören Norwegen, Österreich, Deutschland, Schweden und Frankreich. Es scheint plausibel, dass eine
Wirtschaft, die von weit reichenden öffentlichen Ausgaben und einer hohen öffentlichen Beschäftigungsrate dominiert wird, zu einer
größeren Stabilität fähig ist. Aber Länder, die diese Politik auch noch in den 90er-Jahren vertreten haben, konnten nicht von dem
einmaligen Investitionsboom profitieren, der den etwas kapitalistischer gesonnenen Staaten zugute kam.
Gegenwärtig kommt es in zahlreichen dieser Ökonomien zu einer unterschwelligen kulturellen Verschiebung; und es scheint
möglich, dass noch einiges mehr auf sie zukommt. Der "Shareholder Value" hat an Macht zugenommen; die
Zugangsmöglichkeiten zu einem organisierten Aktienmarkt haben sich ausgeweitet. Und wenn dem tatsächlich so ist, werden sich
die genannten Länder umfassenderen Schwüngen ausgesetzt sehen - was dann?
Marktüberwachung
Es ist zweifelhaft, ob es einen positiven Nutzen aus dem Nettobetrag der künftigen Kosten zu ziehen gibt, wenn man an den
Steuerraten rührt, um die Beschäftigungsrate zu stabilisieren. Doch die Regierungen können spekulative Exzesse attackieren und
dadurch die Instabilität der Arbeitsplätze reduzieren, indem sie für die Kapitalmärkte das unternehmen, was sie bereits lange zuvor
für die Produkt-und Arbeitsmärkte getan haben: nämlich die Einrichtung von Systemen zur Überwachung der Märkte zugunsten der
Sicherheit für Investoren, die Gewährleistung von Transparenz und die Förderung guter körperschaftlicher Regierungstätigkeit. Die
Instabilität der Arbeitsplätze, die dabei zurückbliebe, wäre ein nur geringer Preis, den man für den Anreiz, die Aufregung und den
Fortschritt zu entrichten hätte, die ein gut gestalteter Kapitalismus mit sich bringt. (DER STANDARD, Printausgabe 13.4.2001)