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Einen Pessimisten, der Mut macht, hat ihn der Londoner Guardian genannt. Und in der Tat kann der renommierte Linguist Noam Chomsky als einer der profiliertesten und streitbarsten Kritiker der kapitalistischen Weltordnung gelten. Walter Grünzweig befragte ihn zur Globalisierung, den amerikanischen Wahlen und dem Balkan. der STANDARD: In Ihrem Buch "Profit Over People" behaupten Sie, dass die "Gesetze" der neoliberalen Wirtschaftsordnung von Regierungen und Wirtschaftsinteressen formuliert werden, die sich selbst am wenigsten daran halten. Ist die Rhetorik von der globalen Weltordnung lediglich ein Schwindel, um uns in die Irre zu führen? Noam Chomsky: Ich glaube nicht, dass uns der Ausdruck "neoliberal" bewusst irreführen soll, aber er ist irreführend. Diese Prinzipien werden von sehr kleinen Machtgruppierungen formuliert: von einigen wenigen mächtigen Staaten und den mit ihnen verbundenen Vertretern privater Interessen. Genau den Ansprüchen dieser kleinen Gruppen dienen natürlich diese Prinzipien. Die Interessen anderer sind nebensächlich. Dafür gibt mein Buch viele Beispiele. Es handelt sich im Grunde lediglich um eine Fortsetzung des bisherigen Vorgehens. Vor zweihundert Jahren waren China und Indien wichtige kommerzielle und industrielle Zentren, vergleichbar in vieler Hinsicht mit den entwickeltsten Teilen Europas. Teilweise waren sie sogar überlegen. Ganz allgemein war die Kluft zwischen den Reichen und Armen von heute recht gering. Die Länder, die sich seitdem entwickelt haben, sind jene, die ihre Souveränität behaupten konnten: Westeuropa, Nordamerika und einige frühere britische Kolonien, Japan und seine früheren Kolonien und noch einige andere. Alle entwickelten Länder, darunter England und die Vereinigten Staaten, konnten ihren Status dadurch erreichen, dass sie genau diejenigen liberalen Prinzipien brachen, die sie mit Gewalt anderen Teilen der Welt aufzwangen, die sich nicht wehren konnten. Die Kluft hat sich stetig erweitert und ist nun riesengroß. Wasser predigen und Wein trinken? Dieselben Muster sieht man heute überall. Fast jeder dynamische Bereich der Wirtschaft der USA, darunter auch die vielgerühmte "New Economy", ist in einem hohem Maß vom gewaltigen staatlichen Sektor abhängig, viel davon unter dem Titel "Verteidigung". Wo liegen für Sie eigentlich die wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts? Die Welt ist komplex und es gibt unendlich viele politische und wirtschaftliche Auseinandersetzungen. Ein wichtiges Kampffeld - nicht das einzige natürlich - ist die Weltwirtschaft, die von den eben erwähnten Machtinteressen dominiert wird. Angesichts der Tatsache, dass das Bretton-Woods-System in den letzten 30 Jahren demontiert wurde, werden Finanzinstitutionen immer wichtiger. Im Allgemeinen waren die wirtschaftlichen Auswirkungen schädlich, selbst in volkswirtschaftlicher Hinsicht, und noch mehr, wenn man auch soziale Indikatoren einbezieht. Regierungen, soweit sie demokratisch gewählt sind, und deren Bevölkerungen haben an Entscheidungsgewalt verloren, zugunsten eng vernetzter tyrannischer Privatinteressen, die niemandem Rechenschaft schuldig sind und zugunsten der mächtigen Staaten, die von diesen Interessen dominiert werden. Und wie schätzen Sie den Widerstand gegen diese Entwicklungen ein? Natürlich gibt es starke Reaktionen, die viele Formen annehmen. Sie sind zunehmend das Resultat internationaler Zusammenarbeit, und das ist eine sehr gesunde Entwicklung. Der grundlegende Konflikt zwischen Demokratie und Staatskapitalismus bricht in den verschiedensten Bereichen aus, von kleinen Gemeinschaften über den Arbeitsplatz bis hin zu Organisationen von internationaler Reichweite. Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen Kandidaten wie Al Gore oder George Bush als Präsidenten der Vereinigten Staaten? Es gibt schon Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern. Sie haben verschiedene Wählerstämme und orientieren sich teilweise auch an ihnen. Aber im Grunde sind beide Fraktionen einer "business party", und in Bezug auf Fragen, die ihren Auftraggebern aus der Wirtschaft wichtig sind, unterscheiden sie sich kaum, selbst wenn diese Standpunkte in der Bevölkerung auf allgemeine Ablehnung stoßen. Die "Freihandelsabkommen", übrigens eine irreführende Bezeichnung, sind dafür ein Beispiel. War Ralph Nader eine Alternative zu diesen beiden Kandidaten? Nader war in dem Sinn eine Alternative, als sein populistisches und sozialdemokratisches Programm sich dem Einheitskurs der Fraktionen der "business party" in Richtung der großen Wirtschaftsinteressen entgegenstellt. Ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung teilt diesen Kurs, und wenn es Möglichkeiten einer ernsthaften Diskussion und eines echten Meinungsaustausches gäbe, würde er vermutlich eine beträchtliche Mehrheit erhalten. Nader konnte keine Alternative im gegenwärtigen politischen System darstellen, in dem Wahlsiege im Grunde "erkauft" werden. In den Wahlen des Jahres 1998 lagen 95 Prozent der Wahlsieger auch bei den Wahlkampfausgaben vor ihren Gegnern, und die Finanzierung erfolgt zum größten Teil durch die großen Firmen und die Reichen. Diese grundlegenden Tatsachen, wenn auch nicht die Details, sind allgemein bekannt und wahrscheinlich ein Grund dafür, warum so viele Leute nicht wählen gehen. Sie sind prominenter Kritiker der "westlichen" Politik im früheren Jugoslawien beziehungsweise gegenüber Serbien. Wie beurteilen Sie die jüngsten Entwicklungen in diesem Gebiet? Natürlich stimmt es, dass sich die Clinton-Blair-Regierungen sich schadenfroh über das Ergebnis zeigen, und die üblichen Cheerleaders tun auch ihre Pflicht. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass ernster zu nehmende Beobachter, auch Gegner von Milosevic, die Dinge ganz anders darstellen. Martin Sieff von der UPI (United Press International) beschrieb das Resultat der Wahlen als unangenehmen Schock sowohl für Slobodan Milosevic als auch die Clinton-Administration und hob hervor, dass Kostunica das Nato- Bombardement des letzten Jahres immer wieder als "kriminell" bezeichnete. Die Vereinigten Staaten und Europa werden sicherlich ihre übrigens teilweise konkurrierenden Anstrengungen fortsetzen, Serbien wie auch den übrigen Balkan in das westlich dominierte neoliberale System einzubinden. Dabei werden sie auf eine Elite setzen, die von der Beziehung zu den westlichen Mächten profitieren kann. Die wirtschaftliche und demokratische Entwicklung wird dann untergraben und ein beträchtlicher Teil (vermutlich die große Mehrheit) der Bevölkerung geschädigt, da diese Länder billige menschliche und materielle Ressourcen, Märkte und Investitionsmöglichkeiten bieten müssen, die den westlichen Machtinteressen dienen. Wie überall auf der Welt beginnt ein ernst zu nehmender Kampf gegen eine solche Vereinnahmung erst. Eine letzte Frage noch: Was sagen Sie zu den EU-Sanktionen gegen Österreich wegen der Koalition der Volkspartei mit Jörg Haiders rechtspopulistischer Freiheitlicher Partei? Ist das der richtige Weg für die internationale Politik, mit rechtsgerichteten Bewegungen fertig zu werden? Das ist nicht der richtige Weg, prinzipiell nicht, nicht einmal aus taktischen Gründen. Professor Chomsky, wir danken für das Gespräch. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5. 1. 2001).