"Weit kommen die Länder herum", heißt es bei Polgar oder bei Torberg. Aber kommen sie tatsächlich so weit? Niederösterreich machte kurz dem tausendjährigen Niederdonau Platz. Die unspektakuläre Gegend wurde plakativ mit dem angeberischen Namen versehen. Auch Oberösterreich, nicht nur die Heimat Anton Bruckners und des SS-Führers Alois Brunner, ging es nicht besser. Der Rest durfte sich nennen, wie er sich verstand, kam also nicht sehr weit. Salzburg war es ohnehin gewohnt, ,,immer wieder nach Salzburg zu geraten oder um Salzburg herum, bemühte sich deshalb nicht weiter. In Tirol wiederum hatte ein Schotte für ein Lied schon vor langem entdeckt, dass die Tiroler Highlands nicht das Geringste mit den einzig möglichen Highlands zu tun hatten, weil eben "thy land's hills" nicht "my land's hills" sein konnten. Ob die schottischen Highlands einen solchen Vergleich mit den Highlands of Tyrol überhaupt akzeptierten? Malle in Wien Aber solche Fragen wachsen ohnehin kaum mehr in den schottischen oder anderen hügeligen Metropolen. Eher an gottverlassenen Sonntagvormittagen in der Stadt, wo an Wochenenden die Kinos um zwölf Uhr mittags öffnen. Man plant eine Weile lang, und plötzlich ist es so weit. Rien sur Robert im Votivkino, Liebelei im Bellariakino, besser "in der Bellaria". Oder gleich ins ziemlich verborgene Imperialkino, wo ich einmal Louis Malle aus einem Taxi steigen und rasch im Foyer verschwinden sah, still, eher verschüchtert und dem blonden normannischen Jungen in Au revoir les enfants nicht im entferntesten ähnlich. Bald darauf ging er nach Hollywood zurück und starb dort rasch. Seither ist dieses Kino eine Möglichkeit geworden, mich in dieser Stadt neu zu orientieren. Wer schon aus unnötigen Schulfächern gerne fortgeblieben und am liebsten schon vor der Geburt verschwunden wäre, wird froh sein, wenn ihn, wie mich heute, ein Drogensüchtiger ins Imperialkino begleitet, exterritoriales und unversnobtes Gebiet. Täglich beginnt kurz nach 18 Uhr ein Edgar-Wallace-Film und leitet zu Fassbinder über. Die kurze Pause reicht für ein Cola. Als ich unlängst atemlos dort ankam, keinen anderen Kinogänger sah und fragte, ob der Wallace-Film heute gespielt würde, sagte der Kartenverkäufer: "Wenn Sie wollen", und ich sah diesen Film allein. Zu Fassbinder kamen dann einige andere. Nebel und Giftgase In den Wallace-Filmen ist der britische Nebel auf der Leinwand so dicht wie erwartet. "Die toten Augen von London" tauchen auf, das "Gasthaus an der Themse", natürlich alles in deutschen Studios gedreht, aber doch very british, nasse Pflastersteine, halb offene Klostertore. Und die dazugehörigen Mädchen, in kurzen Röcken, leicht dekolletierte Uniformblusen, hübsche Beine, "born to be murdered" - und ehe man es denken kann, geschieht es schon: Im Studierzimmer kippen gleich drei der girlies, von Giftgasen ums Bewusstsein gebracht, aus den Bänken, reißen die Augen auf und bleiben weg. "Schlafen ist Sache der Jugend", sagte unlängst eine Kellnerin zu einer anderen. Auch sterben ist es offenbar. Und wie sollte das Kino ohne den Tod auskommen. "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln", sangen sie gegen Ende des Films, ungeschulte, kräftige Stimmen. Das Kino hat seine Lichter gelöscht, die Stimmen löscht es nicht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10. 11. 2000)