Jahrelang erinnerte der Krater an das Grubenunglück von Lassing. 2000 wurde er zugeschüttet und zur Gedenkstätte für die zehn toten Bergleute

Foto: Peter Philipp

Lassing – "Das ist ein Tabuthema", sagt Gerhard, und der Rest der Runde stimmt ihm kopfnickend und schweigend zu. Auch Wolfgang sagt nichts, sondern schlägt mit der Fliegenklatsche gerade die vierte Fliege tot und reiht sie neben die anderen erschlagenen auf den Tisch. Die Lassinger, die sich im "Kaffee-Eck" des einzigen Geschäftes im Ort unterhalb der Kirche auf eine Schaumrolle oder ein Bier zusammensetzen, sind sich einig: "I red nimmer drüber."

"Großer Schmerz"

Was vor zehn Jahren am 17. Juli geschah, ist dennoch in dem steirischen Bergdorf nicht zu übersehen. Fährt man vom Einkaufsmarkt die enge Straße hinunter nach Moos, fällt einem in der Senke sofort die Gedenkstätte auf. Drei blitzblau gestrichene Stege führen über einen kleinen Graben auf ein rundes Wiesenstück. In dessen Mitte befinden sich, sternförmig angeordnet, zehn Grabplatten: "An dieser Stelle kamen am 17. Juli 1998 zehn Bergleute bei einem Grubenunglück ums Leben. Es war großer Mut. Es ist großer Schmerz. Es wird nie vergessen werden. Die Familien, die Kollegen und die Gemeinde Lassing", steht auf einer Tafel geschrieben.

Unter der Gedenkstätte, in vermutlich hundert Metern Tiefe, wurden die Bergmänner verschüttet, als sie in die vom Einsturz bedrohte Grube fuhren, um diese zu sichern und um ihren Kumpel Georg zu retten, der im Jausen-raum von plötzlich eindringendem Schlamm und Wasser eingeschlossen worden war. Doch die schwerste Bergbaukatastrophe in der Zweiten Republik konnte nicht verhindert werden. Am Abend stürzten Tonnen von Wasser und Geröll in den Schacht. Durch den enormen Sog entstand ein Krater von 150 Meter Durchmesser im Ortsteil Moos. Vier Einfamilienhäuser und neun Wohnungen wurden mitgerissen oder zerstört. Am 25. Juli erklärte die Einsatzleitung die elf Bergleute für tot. Nur einen Tag später passiert dann das Denkunmögliche: Georg Hainzl wurde nach neun Tagen lebend geborgen.

Vorbei am Unglücksort Nur einige hundert Meter von dem Unglücksort entfernt und hinter seinem ehemaligen Arbeitgeber, den Naintscher Mineralwerken, hat der heute 34-jähri- ge zweifache Vater gebaut. Sein täglicher Weg zur Arbeit bei der Baubehörde Liezen führt Hainzl direkt am ehemaligen Krater vorbei, der vor Jahren zugeschüttet und zur Gedenkstätte für seine ums Leben gekommenen Kameraden wurde.

Wie er mit der Situation fertig wird, als Einziger überlebt zu haben, weiß oder will in dem Ort niemand sagen. Erich Kolb, 25 Jahre lang Gemeindekassier, meint nur, "er hatte mit den Füßen Probleme". Aber den Georg direkt darauf anzusprechen, das mache niemand. Auch Mutter Hainzl schlägt ihre Hände vor das Gesicht, als sie gefragt wird, wie es ihrem Sohn zehn Jahre danach gehe: "Ich gebe keine Auskunft." Ihre Stimme klingt aufgewühlt, offenbar bringt sie die Erinnerung an die Freude über die Rettung ihres Kindes und an die Trauer über den Tod der anderen aus der Fassung. Psychologen hatten nach der Rettung versucht, den Hainzls ihre aufkommenden Schuldgefühle zu nehmen.

"Jetzt kannst nicht gehen"

Verschlossen gibt sich auch Ex-Bürgermeister Bernhard Zeiser. Eigentlich wollte er nach 20 Amtsjahren 1998 in Pension gehen, doch dann geschah "das". "Da haben die Leute gesagt, jetzt kannst nicht gehen." Und so blieb er noch zwei Jahre, eine Zeit, in der er sich "über die da oben" ärgern musste, fängt er doch noch an zu erzählen. Denn es sei mit falschen Hoffnungen und falschen Tatsachen versucht worden, "uns zu täuschen". So habe am 4. August, 18 Tage nach dem Einbruch, Minister Hannes Farnleitner angekündigt: "Wir suchen weiter nach den Verschütteten, koste es, was es wolle."

Der Chef des französischen Mutterkonzerns der Naintscher Werke, André Talmon (von Talc de Luzenac) sei fünf Tage nach dem Einsturz bei ihm, Zeiser, erschienen, um anhand von Schaubildern zu erklären, was im Lassinger Werk unter Tage passiert sei. "Da habe ich meine Meinung gesagt. Dass nämlich sehr wohl das Werk verantwortlich war." Zeiser sollte recht behalten. 2003 wurden der damalige Werksleiter Hermann Schmidt und Berghauptmann Wolfgang Wedrac rechtskräftig wegen fahrlässiger Gemeingefährdung verurteilt.

Im einstigen Sperrgebiet Heute ist nur mehr die Talkummühle in Betrieb, die voriges Jahr von einer örtlichen Firma gekauft wurde. Sie befindet sich ebenso wie das alte Holzhaus am Fuße jenes Berges, in den man einst unter Tage fuhr, im ehemaligen Sperrgebiet. Die Besitzerin zeigt die Risse in den Wänden des Schuppens, die durch den Kratereinbruch an ihrem Haus entstanden sind. "Die Betondecke hat es auch zwei Zentimeter nach hinten geschoben." Regelmäßig kämen Beamte, um zu kontrollieren, ob die Statik noch passe. Die Höhe des Sachschadens will die Frau nicht beziffern. Sie habe keine Zeit, über "das Ganze" zu sprechen; darüber etwa, dass andere Eigentümer, deren Häuser zwar weiter weg vom Kraterrand standen, dafür aber neueren Baujahres waren, mehr Geld für die Sanierung erhalten haben. Dieser Blick zurück schmerze.

Für die Familien der zehn Toten ist der Jahrestag des Unglücks eine weit leidvollere Erinnerung, weshalb auch sie nicht reden wollen. In einer öffentlichen Erklärung bitten sie um Verständnis: "Jede Erörterung der damaligen Geschehnisse und ihrer bis heute und in alle Zukunft wirkenden Folgen ruft bei uns auch den Schmerz wieder hervor. Jede Frage danach zwingt uns, alle emotionalen Belastungen wieder zu erleiden." (Kerstin Scheller, DER STANDARD Printausgabe, 15.7.2008)