Plädoyer für ein Gegenrezept: Abschaffung des Listenwahlrechts.

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Der vorwiegenden Meinung österreichischer Politikkommentatoren zufolge herrscht in Österreich eine breite EU-Skepsis, die naheliegender Weise – zumindest aus Sicht der SPÖ – nun auch zum bestimmenden Wahlkampfthema werden könnte/sollte.

Dies allerdings hieße, die eigene Situation zu verkennen: Statistisch ist nämlich das Vertrauen der Österreicher/innen in europäische von dem in nationale Institutionen kaum unterscheidbar. Laut Eurobarometer ist die Akzeptanz des österreichischen Parlaments gleich niedrig wie jene des EU-Parlaments (46 bzw. 43%), das Vertrauen in die österreichische Regierung kaum "stärker" als das in die EU-Kommission (42 bzw. 37%). Wir haben es also offenbar mit einer generellen politischen Vertrauenskrise zu tun.

Der Grund dafür liegt meiner Ansicht nach auf der Hand: mangelnde Legitimität der politischen Repräsentanten. Eine Organisation funktioniert dann gut, wenn die Führung gegenüber ihren Mitgliedern rechenschaftspflichtig ist und bei Minderleistung ausgewechselt werden kann. Politische Akteure abzuwählen ist hierzulande zwar am Papier möglich, de facto aber nahezu ausgeschlossen. Die politischen Parteien haben über Jahrzehnte ein Gebilde konstruiert, in dem die Parteispitzen mittel- oder unmittelbar bestimmen, wer Nationalrat, Bundesrat, EU-Parlamentarier oder Minister wird. Wähler bestimmen letztlich nur, welche Parteisekretariate wie viel relative Macht ausüben.

Wenn dieser Tage eine Partei den Wahlvorschlag für die Nationalratswahl erstellt, wird sie demnach folgende Kriterien in Betracht ziehen:

  • Regionale Ausgewogenheit – vier ÖVP- und vier SPÖ Landeshauptleute wollen alle ihren Einfluss geltend machen; sogar das BZÖ braucht einige nichtkärntnerische Feigenblätter;
  • Bedienung der formellen oder informellen Teilorganisationen;
  • Genderorientierung – nicht einmal die FPÖ könnte heutzutage mit einer reinen Männerliste punkten. Was jedoch soll eine Wählerin machen, wenn sie glaubt, dass für Josef Cap 25 Jahre im Nationalrat reichen? Dass Andrea Kdolsky alles Mögliche sein kann, nur keine effektive Ministerin? – Diese Fragen sind nicht neu, und "immerhin" gibt es ja das Instrument der Vorzugsstimme; dieses ist allerdings so sperrig, dass es in der jüngeren Geschichte ganze zwei wesentliche Umreihungen gab – die von Josef Cap im Jahre 1983, als er noch ein junger Rebell war, und die von Andreas Mölzer im Jahre 2003. Zudem dient dieses Instrument nur dem Vorzug, nicht der Abwahl.

    Die dadurch bedingte Aushöhlung der Legitimität unseres "Volksvertretungs" -Systems manifestiert sich auf mehreren Ebenen:

  • Politiker gelten als privilegiert, da sie ein relativ hohes Einkommen beziehen und Jobsicherheit haben, solange sie es sich mit ihren Parteizentralen richten. Viele Parlamentarier sind kompetent und arbeiten hart; sie unterliegen demselben Vorurteil.
  • Die wichtigste Qualifikation für den Karrierefortschritt eines Politikers scheint darin zu liegen, sich in der eigenen Fraktion durchsetzen zu können. Charisma und Authentizität sind nützliche, jedoch keinesfalls notwendige Eigenschaften; tatsächlich fällt vielen Volksvertretern der unmittelbare Kontakt zum Volk schwer.
  • Fähige Individuen, die gute Politiker wären, könnten sie sich direkt der Wahl stellen, unterziehen sich den für die Erlangung eines Listenplatzes notwendigen Bittgängen durch die Parteisekretariate nur dann, wenn sie unverbesserliche Optimisten sind; viele potenziell versierte Politiker gehen durch diese unwürdige Praxis unserem System verloren. Die Folge: Als Bürger sind wir gezwungen, eine Gruppe von Leuten zu wählen, die wir a) nicht entlassen können, die b) oft uninteressant und von durchschnittlicher Qualität sind und die c) in einem Land ohne Rücktrittskultur das politische Parkett selten von sich aus vorzeitig verlassen.

    Daran würde sich übrigens auch bei der gestern an dieser Stelle von Bernd Schilcher wieder ins Spiel gebrachten Variante des Mehrheitswahlrechts nichts ändern: Würde dem heutigen Listenwahlrecht ein Mehrheitsmodell umgestülpt, z. B. das griechische, das einen Mandatsbonus für die stärkste Partei vorsieht, blieben die beschriebenen Missstände aufrecht – und zugleich wären die Kleinparteien in ein ewiges Oppositionsdasein verbannt.

    Der Schlüssel zur Reform liegt vielmehr in der Zulassung von Einer-Wahlkreisen, in denen die Kandidaten mittels Stimmenmehrheit direkt gewählt werden. Politiker, die sich ihrem Klientel so unmittelbar stellen müssen, werden für den EU-Vertrag stimmen, wenn sie es kommunizieren können, und werden es kommunizieren, wenn ihre Wiederwahl davon abhängt.

    Neues Finanzierungsmodell

    Wenn man die Parteienfinanzierung dergestalt ändert, dass die Förderung an gewählte Mandatare und nicht an Parteizentralen erginge, dann haben direkt gewählte Politiker auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die sie brauchen, um nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten zu können. Schließlich müssten noch verpflichtende Vorwahlen eingeführt werden, damit die Parteisekretariate nicht dem lokalen Wahlkreis ihre Kandidaten/Kandidatinnen aufzwingen könnten.

    Das landläufige Gegenargument zum Persönlichkeitswahlrecht zielt darauf, dass kleinere Parteien dann nicht mehr im Parlament vertreten wären. Dies verkennt jedoch die Dynamik von Parteien, deren Anzahl ja nicht gottgegeben ist, sondern vom jeweiligen Wahlrecht und Parteienfinanzierungsgesetz abhängt. Im israelischen Parlament sind 13 Parteien vertreten, im österreichischen fünf und im maltesischen zwei – das Wahlrecht bestimmt bloß, ob es viele Parteien mit engen Programmen, oder wenige Parteien mit weiten Programmen gibt. Da in Österreich die Eintrittsbarriere mit der Vier-Prozent-Hürde oder einem regionalen Grundmandat nicht sonderlich hoch ist, könnten mit Martin und Dinkhauser bald sieben Parteien im Parlament vertreten sein.

    Beim Persönlichkeitswahlrecht kommt es aber natürlich auch darauf an, wie es gelebt wird: In Frankreich etwa ist die Legitimität der politischen Klasse, wie im Referendum zur EU-Verfassung gesehen, nach wie vor begrenzt, da dort das Persönlichkeitselement durch eine Umklammerung überkommener Denkmuster überlagert ist (und die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Mandatare nicht sichergestellt). Anders die Situation in Australien oder in den USA, die im Wesentlichen dasselbe Wahlsystem haben – Einer-Wahlkreise: Kein Senator wird sich in den USA automatisch einer Parteilinie unterwerfen, wenn er nicht überzeugt ist, mit dieser Entscheidung bei der nächsten Wahl bestehen zu können. Nicht zufällig ist in US-Umfragen das Ansehen des Kongresses sehr niedrig, die Meinung vom jeweils eigenen Volksvertreter jedoch hoch. Über 90 Prozent werden regelmäßig wiedergewählt – allerdings von den Bürgern, nicht wie bei uns vom jeweiligen Parteisekretariat.

    Legitimität ist keine Dekoration; sie ist Grundvoraussetzung einer funktionierenden Demokratie. Nach den Wahlen im September wird eine Regierungsbildung schwierig sein – und wesentlich durch den von der Faymann’schen Demutsbezeugung legitimierten Boulevard mitbestimmt werden. Die nächste Regierung sollte sich selbst eine begrenzte Amtsdauer von einem Jahr geben, in dem der Umstieg auf die Direktwahl ermöglicht wird.

    Dies ist wesentlich wichtiger als fallweise Ja-Nein-Abstimmungen zu Sachthemen. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.7.2008)