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In London wurden heuer bereits 19 Jugendliche ermordet. Im Bild der bislang letzte Tatort im südlichen Stadtbezirk Borough of Croydon, wo am 4. Juli ein 16-Jähriger erstochen wurde

F.: Daniel Berehulak/Getty Images
Im Kampf gegen die zunehmende Anzahl von Messerstechereien unter Jugendlichen hat Scotland Yard jetzt eine neue Sonderkommission gebildet. 75 Beamte sollen "unserer derzeit größten Herausforderung" in der britischen Hauptstadt begegnen, kündigte Vize-Polizeipräsident Paul Stephenson an. Damit hat die Epidemie von Gewalt mit Messern offiziell den Terrorismus als höchste Priorität abgelöst. Die Gruppe nahm am Montag die Arbeit auf – ausgerechnet dem dritten Jahrestag der Terroranschläge in der Londoner U-Bahn und einem Doppeldecker-Zug, bei denen am 7. Juli 2005 vier Selbstmordattentäter 52 Menschen ermordet und Hunderte verletzt hatten.

Stichwunden "beinahe täglich"

Wie weit verbreitet Messerstechereien auf der Insel sind, verdeutlichen Zahlen des Gesundheitsministeriums: Im vergangenen Jahr behandelten britische Hospitäler 13.795 Patienten mit Stichwunden. Die Zahl steige stetig, erläutert Dr. Tuni Lasoye vom Londoner King's-College-Krankenhaus. "Früher hatten wir mal einen Fall am Wochenende, jetzt kommt beinahe täglich ein Patient, viele von ihnen unter 20." Bis Montag waren allein in der Hauptstadt in diesem Jahr bereits 15 Teenager Messerattacken zum Opfer gefallen, vier weitere starben an Schusswunden oder durch Faustschläge. Im vergangenen Jahr wurden 26 ermordete Teenager gezählt. In beinahe allen Fällen waren die Täter, soweit gefasst, selbst noch Jugendliche oder junge Erwachsene, meist gehörten sie Jugendgangs an. Die Zahl der Getöteten unter 25 Jahren in den vergangenen 18 Monaten liegt nach Angaben von Scotland Yard bereits bei 75.

243 Messerstiche

Zur schrecklichen Statistik gehören auch zwei junge Biochemie-Studenten aus Clermont-Ferrand, deren verkohlte Leichen die Feuerwehr vergangene Woche in einer Wohnung im Südlondoner Stadtteil New Cross fand. Die Obduktion ergab: Der oder die Täter hatten 243-mal auf Laurent Bonomo und Gabriel Ferez, beide 23, eingestochen, mindestens 70 Stiche erfolgten postmortal. Als Mordmotiv vermutet die Kripo die Habgier professioneller Einbrecher, zwei Männer befinden sich in Haft.

Viele andere Verbrechen geschehen beinahe beiläufig, immer wieder auf offener Straße und am helllichten Tag. Eine Gruppe Vermummter machte vergangenen Donnerstag Jagd auf den 16-jährigen Shakilus Townsend, den ein gleichaltriges Mädchen zuvor in eine Falle gelockt hatte. Townsend verblutete in den Armen einer Anwohnerin.

Das Notarzt-Team am Royal-London-Hospital, wo auch mehrere Hubschrauber stationiert sind, musste zuletzt immer wieder auf offener Straße am offenen Herzen operieren, um Verletzten das Leben zu retten. In der Notaufnahme des Krankenhauses im Londoner Osten werde mittlerweile "jeder dritte Patient mit einer Stichwunde" eingeliefert, berichtet der Chirurg Karim Brohi. Um ihre eigenen Bediensteten zu schützen, geben Krankenhäuser und Ambulanzen Schutzwesten aus.

Detektor

Eines der Instrumente im Kampf gegen die Messermorde ist ein mobiler Metalldetektor, wie er in Flughäfen zum Einsatz kommt. Seit sechs Wochen hat die Polizei 27.000 Jugendliche nach Waffen durchsucht und mehr als 1200 vorläufig festgenommen. Dabei wurden 528 Messer sichergestellt.

Auf politischer Ebene wollte der schwarze Chef eines erfolgreichen Jugendzentrums im Osten der Metropole den Kampf gegen die Bandenkultur koordinieren und ein Konzept gegen "wachsende Gesetzlosigkeit und unverantwortliches Benehmen" entwickeln. Doch Ray Lewis stolperte bereits zwei Monate nach seiner Ernennung zum Vize-Bürgermeister über dubiose Privatkredite aus seiner Zeit als Gemeindepfarrer in den 1990er-Jahren.

19 Jugendliche wurden in London heuer bereits ermordet. Bei Straßeneinsätzen gehen Ärzte und Sanitäter nicht mehr ohne Schutzwesten außer Haus. Scotland Yard will nun mittels Sonderkommission die Gewalt stoppen. (Sebastian Borger, DER STANDARD Printausgabe, 8.7.2008)