Politologe Peter Gerlich bewertet in einer ersten Reaktion die nun von der ÖVP geforderten Neuwahlen als unvermeidliche Notwendigkeit. "Die Zeit der Konsenskoalitionen ist vorbei", so Gerlich. Statt große Projekte gemeinsam zu beschließen, habe zumindest diese Koalition kaum inhaltlich gearbeitet. Dass nun Wilhelm Molterer als erster an die Öffentlichkeit gegangen ist, wertet Gerlich im Gespräch mit derStandard.at als leichten Vorteil für die ÖVP, Molterer habe in seiner Stellungnahme den schwarzen Peter der SPÖ zugeschoben. Wie sich das auf die Wählerschaft auswirken wird, könne man erst im Wahlkampf selbst bewerten. Die Koalition sei auch am Widerstand der Interessengruppen gescheitert.

Die Ausgangslage sei allerdings derzeit für beide Parteien schlecht, ein Umschwung der öffentlichen Meinung jederzeit möglich. Der frühe Wahltermin sei zumindest ein Vorteil für die ÖVP, deren Team klarer aufgestellt ist. Die SPÖ müsse sich erst personell neu aufstellen. Gerlich geht davon aus, dass die Tage von Alfred Gusenbauer gezählt seien. Trotzdem sei Faymann in den letzten Wochen nicht mehr jener frische, charismatische Spitzenkanidat, den die SPÖ eigentlich bräuchte. Ein überraschender, neuer Kandidat sei laut Gerlich aber nicht in Sichtweite.

Die Opposition werde bei Neuwahlen von der aktuellen Situation profitieren, Wahlgewinner werde allerdings derjenige sein, der sich die meisten mathematischen Möglichkeiten offen lässt.

Thematisch erwartet sich Gerlich im Wahlkampf keine großen Überraschungen. Die SPÖ könnte nun in den letzten Nationalratssitzungen noch versuchen, Themen mit der Opposition durchzusetzen, die von der ÖVP abgrenzen, zum Beispiel die Abschaffung der Studiengebühren. Der Themenkomplex "Volksabstimmung und EU" sieht Gerlich als zweischneidiges Schwert. (mhe, derStandard.at, 7.7.2008)