Auf der Tribüne im Ernst-Happel-Stadion saßen am 12. Juni zwei polnische Spitzenpolitiker - beide umstritten und seit langem miteinander verfeindet. Das amtierende und wegen seines extrem nationalistischen Kurses von der liberalen und linken Öffentlichkeit scharf kritisierte Staatsoberhaupt, Lech Kaczynski behauptet, dass sein Vorgänger Lech Walesa, der Held von Danzig 1980, ein Spitzel des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes gewesen sei. Walesa weist die Vorwürfe zurück: Kaczynski sei "ein von Komplexen geplagter schwacher Mensch, der seinen Stress abreagiert ..."

Kurz vor dem Spiel habe ich im Finanzministerium ein Gespräch vor Publikum zwischen Walesa und seinem Gastgeber, Vizekanzler Molterer, moderiert. Als ein junger polnischer Zuhörer ihm über seinen Streit mit den Kaczynski-Zwillingen eine vorsichtig formulierte Frage stellte, antwortete der sonst sehr gesprächige Expräsident kurz und bündig, er lehne es ab, schmutzige Wäsche im Ausland zu waschen.

Nur einige Tage danach platzte die seit längerer Zeit angekündigte Zeitbombe: Zwei junge Historiker enthüllten in einem 780 Seiten langen Buch, dass Walesa als verhafteter junger Bürgerrechtler Anfang der Siebzigerjahre unter dem Decknamen "Bolek" Spitzelberichte über Kollegen geliefert hat und dann als Präsident 1992 aus seinem von ihm angeforderten Akt einige Dokumente verschwinden ließ. Nicht nur Walesa selbst hat die Anschuldigungen pauschal zurückgewiesen. Auch die meisten angesehenen liberalen und linken Persönlichkeiten verteidigen den Arbeiterführer, der 1980 an der Spitze der "Solidarität" Geschichte gemacht hat und 1983 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Wenn man weiß, wie das kommunistische Regime Walesa mit allen Mitteln diskreditieren wollte und wie willkürlich der Geheimdienst auch Dokumente anfertigte, um sie auch nach der Wende gegen missliebige Persönlichkeiten zu instrumentalisieren, wird die von den Kaczinsky-Zwillingen zur antidemokratischen Verschwörung eines erpressten Walesa mit den Machthabern aufgebauschte Geschichte mit Skepsis betrachten. Walesa versagte zwar als Präsident(1990-1995), aber heute wird er selbst von seinen damaligen Gegnern, wie der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Mazowiecki und Außenminister Bartoszewski zu Recht verteidigt.

Unabhängig von seinen einmal zugegebenen (später widerrufenen) "Dummheiten" unter Druck, bleibt Walesas Leben ein Beispiel für die Empfehlung Nietzsches "die Kunst und Kraft, vergessen zu können", denn, so weiterhin Nietzsche: "Zu allem Handeln gehört Vergessen." Der Sonderfall Walesa bedeutet freilich nicht, dass die Tätigkeit der Staatssicherheitsdienste verharmlost und verklärt werden dürfe. Auf diese Gefahr wies Marianne Birthler, die deutsche Beauftragte für die Stasi-Unterlagen im Zusammenhang mit dem vieldiskutierten Fall Gregor Gysi hin, der angeblich Informationen über den berühmten Regimekritiker Robert Havemann (1978-1980) an die Stasi geliefert haben soll. Auch in Ungarn hat die Geheimpolizei, wie zwei eben erschienene Bücher zweier renommierter Zeithistoriker belegen, mit fast 10.000 Agenten und Informanten Kontaktleute in allen gesellschaftlichen Gruppen platziert. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 3.7.2008)