Auf Eingangsbücher kann man sich in der Zweigbibliothek für die Geschichte der Medizin im Wiener Josephinum nicht verlassen. Jedes Buch wird akribisch untersucht.

Foto: Standard/Regine Hendrich
"Lebenswunder" heißt das abgegriffene Buch von Ernst Haeckel, das die Inventarnummer 17.095 trägt, erworben vom Institut der Geschichte der Medizin (IGM) im Jahr 1943. "Dem Fernand Jellinek-Mercedes sein Buch", steht auf dem eingeklebten Exlibris, das mit einem lachenden Schelm und einer Eule versehen ist. Zu dem Zeitpunkt, als das Buch in den Besitz des IGM kam, war Jellinek-Mercedes, der Sohn des Beraters der Daimler Motoren Werke, nach dessen Tochter das gleichnamige Automobil benannt ist, bereits vier Jahre tot. Auf Druck der Gestapo und der Vermögensverkehrsstelle hatte der Badener Kunstsammler 1939 Selbstmord begangen.

Der 1905 erschienene Band ist eines von rund 150 Büchern, die von den Provenienzforschern der Bibliothek der Medizinischen Universität Wien (MUW) bereits eindeutig als nationalsozialistisches Raubgut identifiziert werden konnten. Auch der ursprüngliche Besitzer und die Beschaffungswege über diverse Antiquariate waren in diesem Fall verhältnismäßig leicht zu rekonstruieren.

"Meist ist es eine Sisyphosarbeit, die unsere Mitarbeiter leisten", schildert Bibliotheksleiter Bruno Bauer, der das seit Mai 2007 laufende Projekt zur Provenienzforschung angeregt hat. 50.000 von insgesamt 170.000 historischen Bänden im Bestand der im Wiener Josephinum angesiedelten Bibliothek, die derzeit im Fokus der Untersuchungen steht, haben die Historiker Walter Mentzel und Harald Albrecht bereits durchgesehen. 1500 Bücher, bei denen der Verdacht besteht, dass sie NS-Raubgut sind bzw. aus Enteignungen stammen, wurden bisher samt aller verfügbaren Informationen in einer Datenbank erfasst. Etwa zehn Prozent befinden sich in der "Josephinischen Bibliothek", die mit mehr als 10.000 Bänden aus dem 15. bis 18. Jahrhundert zu sämtlichen Gebieten der Medizin bis hin zu Alchemie, Botanik und Zoologie eine besonders wertvolles Schmuckstück der Medizingeschichte darstellt.

"Autopsie am Regal" nennt der Bibliotheksleiter die aufwändige Arbeit, denn Zugangs- und Inventarbücher sind nur vereinzelt vorhanden, die Bibliothek wurde aus Beständen verschiedenster Institute und Kliniken, Fachgesellschaften und Vereine zusammengewürfelt. So versuchen die Provenienzforscher anhand von handschriftlichen Vermerken, Stempeln, Exlibris, Widmungen und Autografen ein Mosaik zusammenzusetzen; suchen in Archiven nach weiteren Spuren und ermitteln darüber hinaus so genau wie möglich, auf welchem Weg ein "bedenkliches" Buch in die Bibliothek kam.

Zahlreiche Bibliotheken - von der Nationalbibliothek über die Wien-Bibliothek bis zur Bibliothek der Universität Wien - haben in den letzten Jahren begonnen, ihre Bestände systematisch auf unrechtmäßige Erwerbungen hin zu durchforsten und diese an die Rechtsnachfolger zu restituieren. Darüber hinaus hat sich die Bibliothek der MUW weitere Ziele gesteckt: Alle Ergebnisse des Forschungsprojekts sollen möglichst transparent an eine breite Öffentlichkeit gelangen und damit anderen Forschern nachhaltig zugänglich gemacht werden - mithilfe von Web-2.0-Technologien.

Weblogs und Open Access

Bereits seit März wird in der Sonderblog-Serie "Vertrieben 1938" täglich die Biografie eines der 143 vertriebenen Professoren und Dozenten der Medizinischen Fakultät präsentiert - inklusive Links zu Online-Repositorien (Dokumentenserver, auf denen wissenschaftliche Texte unentgeltlich publiziert und archiviert werden), zu Werken im Online-Bibliothekskatalog, zu Materialien im Bildarchiv und anderen Sammlungen.

"Im Sinne von Open Access können die Einträge kommentiert und laufend ergänzt werden", beschreibt Bauer. "Unser Ziel ist es, dadurch weitere Forschungen anzuregen." Deshalb soll das Projekt kontinuierlich verbreitert werden: mit Fallstudien über geraubte Bücher, Dokumentationen der Forschungsleistungen von Wissenschaftern im Exil und die Integration in eine noch zu schaffende internationale Datenbank, auf die Provenienzforscher weltweit zurückgreifen könnten.

Die akribischen Nachforschungen bringen außerdem die Netzwerke von Antiquariaten, Buchhändlern und Bibliothekaren zutage, die von geraubten Büchern und deren Verwertung profitierten. Nach heutigem Forschungsstand wurden etwa 70 Prozent der als bedenklich eingestuften Bücher des IGM über Antiquariate erworben, die Bücher aus "arisierten" Buchhandlungen sowie Vereins- und Privatbibliotheken von vertriebenen und deportierten Personen zum Teil bis weit in die Nachkriegszeit hinein verkauften. "Ein Drittel der unrechtmäßigen Erwerbungen sind nach 1945 eingegangen", erklärt Mentzel.

Eine entscheidende Rolle in der Erwerbung geraubter Bücher hatte Fritz Lejeune, der das Institut von 1940 bis 1945 leitete. "Lejeune arbeitete gezielt mit Buchhändlern und Antiquariaten zusammen, die in den NS-Bücherraub involviert waren, und nutzte seine Kontakte, um Bücher an andere Institutionen weiterzuvermitteln", sagt Albrecht.

Finanziert wird das Projekt, das im Mai 2009 abgeschlossen sein soll, aus dem Budget der MUW. Damit stellt sich die Medizin-Uni, die bereits Ende der 1980er-Jahre für die Verwendung des Pernkopf-Anatomieatlas, der mit Bildern von NS-Opfern illustriert ist, heftig kritisiert wurde, neuerlich ihrer Vergangenheit. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. Juli 2008)