Die astronomische Uhr im Straßburger Münster berechnet heute wieder exakt alle erdenklichen Datums- und Planetenkonstellationen.

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Grafik: DER STANDARD

Gleich mehrmals in der Geschichte schien die Zeit in Straßburg stillzustehen. Blicken wir etwa auf die alte astronomische Uhr im Straßburger Münster, die heute wieder mit der Präzision eines Computers jede erdenkliche Datums- und Planetenkonstellation berechnet. Die französische Revolution hat sie verschlafen - kaputt. Und dann noch einmal, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, drohte sie als Zeitzeuge des ewigen elsässischen Pendelns zwischen deutschen und französischen Ansprüchen zu versagen. Um die Zahnrädchen dann doch immer am Laufen zu halten, hat Straßburg einen Ungerer.

Théo Ungerer, seines Zeichens Spross einer alteingesessenen Uhrmacherdynastie, kümmerte sich um das mechanische Gedächtnis. Sowieso als geschickter Handwerker, der das komplizierte Werk reparieren konnte, aber auch als Kurator dieses Wahrzeichens, das stets den Takt seines Landes wiedergab. Und als es Jahre später darum ging, Konstellationen zu erkennen in einer Gesellschaft, die offensichtlich auch nicht immer richtig tickt, bewies bereits der Sohn sein handwerkliches Talent.

Tomi Ungerer, der international bekannte Grafiker und Illustrator, hat dafür sogar ein Haus bekommen. Und wenn er selbst dazu nur sagt: "Vorher hatte ich meinen Stift. Jetzt mit dem Museum habe ich eine Stiftung", so ist diese Institution doch einzigartig. Jedenfalls in Frankreich, wo bislang noch keinem lebenden Künstler ein eigenes Museum gewidmet wurde. 250 Originale hat Ungerer der Stadt schon vorher vermacht, mit der Hilfe von Werken anderer Zeichner und Illustratoren aus dem 20. und 21. Jahrhundert ist daraus das erste internationale Zentrum für Illustration geworden. Interessant ist die in der Villa Greiner untergebrachte Kollektion jedenfalls auch für Elsass-Touristen im engeren Sinn.

Weiche Exil-Landschaften

Im selbstgewählten New Yorker Exil zeichnete Ungerer von seiner Heimat nämlich noch ein recht liebliches Bild, das mag man Auszügen aus Werken wie dem großen Liederbuch entnehmen. Aber mit der späteren räumlichen Nähe zum Elsass (in den 1970er-Jahren übersiedelte er nach Irland und hatte dann auch wieder eine Wohnung in Straßburg) bekam diese Idylle wieder schärfere Konturen. "Man muss sich fragen, ob das Elsass nicht direkt vom Mittelalter im Rentenalter gelandet ist", sagte er noch vor kurzem. Allerdings ist es heute auch offensichtlich, dass sich da trotz der besonderen Beziehung der Ungerers zur "Straßburger Zeit" etwas unbemerkt verändern konnte.

Schon bei der Ankunft am Bahnhof wird man frech von einer riesigen gläsernen Blase überrascht, die über dem klassizistischen Gebäude schwebt. Mit Aufgeblasenheit hat diese wenig zu tun, wie man bereits nach den wenigen Schritten bis ins historische Zentrum feststellen kann. Die Stadt hat sich enorm verjüngt: Nicht nur architektonisch mit erheblichem finanziellen Aufwand, sondern auch auf ganz natürliche Weise durch den massiven Zuzug der Studenten.

Diese scheinen ständig in Bewegung zu bleiben. Kein Wunder, denn mit weit über 400 Kilometern an Radwegen verfügt Straßburg über das dichteste städtische Netz in ganz Frankreich. Und nicht nur davon wird man als Besucher profitieren, auch die Tram ist als moderner, vollverglaster Panoramazug ins Stadtbild zurückgekehrt. Vier Linien sind dabei vollkommen ausreichend, um ein Spektrum von alten Fachwerkhäusern bis hin zu den Palästen der Europäischen Union am Stadtrand abzudecken.

Sonderbotschaft Essen

Seit dem Jahr 2000 ist Tomi Ungerer auch Sonderbotschafter für Jugend und Erziehung im Europarat. Und dennoch: Wenn er heute für Straßburg als europäische Stadt wirbt, so würde er Besucher wohl eher zurück ins historische Zentrum lotsen als in dieses zwar sehenswerte, aber doch entrückte Europaviertel, wo auch der Europarat steht. Vielleicht sogar in die Wirtshäuser. Seine Mission sieht er nämlich darin, den jungen Menschen Respekt beizubringen. Respekt vor der Natur und vor den Religionen. Und schließlich: "Respekt vor dem Essen, also die Liste ist wirklich enorm", so Ungerer.

Die Botschaft wurde gehört: Das internationale und recht junge Publikum lernt "das schneckenhafte elsässische Wesen" - so Tomi Ungerer weiters über sein Land - heute nämlich bevorzugt mit Kräuterbutter und in der feuerfesten Form kennen. In Lokalen wie "Chez Yvonne" etwa, durchaus auch gemeinsam mit Europaparlamentariern, die hier verkehren, aber immer noch zu akzeptablen Preisen.

"Respekt vor dem Alter" spricht der 1931 geborene, stets provokante und selten humorfreie Ungerer noch an. In Verbindung mit Ehrfurcht vor der Küche scheint auch das in Straßburg machbar: Im Restaurant "Maison Kammerzell", gleich gegenüber vom Münster, ist es eine Freude für Jung und Alt, gemeinsam die Zeit zurückzudrehen. Am besten bis ins Mittelalter, als im Rhein noch Lachse lebten, wie sie es auch heute wieder tun. Der "Bauernschmaus der Vergangenheit" wird dort nämlich schon jetzt und hoffentlich auch in Zukunft als wiederentdeckte historische Choucroute mit Fisch serviert.

Auf der Place Broglie kann man dann überraschenderweise auch einem staatstragenden Tomi Ungerer begegnen. Da war er Architekt. Anlässlich der Zweitausendjahrfeier Straßburgs im Jahr 1988 entwarf er ein Denkmalensemble, bei dem ein Bronzekopf von drei Pfeilern eines römischen Aquädukts überragt wird. Als Janusbrunnen symbolisiert das Monument die durch Deutschland und Frankreich gleichermaßen geprägte Doppelkultur der Stadt. "Jedoch leidet der Elsässer immer noch unter Unsicherheitsgefühlen und einer zerspaltenen Identität", war von ihm nämlich auch schon zu hören.

Was bedeutet das für die Stadt? Besucht man heute nur ein "Petite France", wie es der Name des alten Gerberviertels entlang der bildhübschen Kanäle nahelegen könnte? Wohl kaum, denn selten hat sich eine so überschaubare Stadt in kurzer Zeit vielleicht sogar in eine europäische Musterstadt verwandelt. Und das passierte bestimmt nicht durch das institutionalisierte Europa am Stadtrand, sondern vielmehr durch die kleinen, hausgemachten "Frechheiten". Lebenden Künstlern ein Museum zu bauen gehört mit Sicherheit dazu. (Sascha Aumüller/DER STANDARD/Printausgabe/28./29.6.2008)