Erleichtert, dass die Anzeigepflicht entschärft werden soll: Georg Dimitz.Erzürnt, wenn die Kinder, nicht die Täter häuslicher Gewalt weichen müssen: Rosa Logar.

Standard/Cremer
Standard: Gerade haben wir erfahren, dass die nach dem "Fall Luca" vieldiskutierte Anzeigepflicht für Angehörige sozialer Berufe, die den Verdacht haben, dass ein Kind misshandelt wird, jetzt offenbar nur in einer abgeschwächten Form kommen soll. Was sagen Sie dazu?

Dimitz: Ich bin erleichtert. Auch die laut Entwurf vorgesehenen Fallkonferenzen sind als positiv zu werten: Dort können in Fällen, die das Kind extrem belasten, individuelle Schutzmaßnahmen besprochen werden. Trotzdem glaube ich, dass es flankierende Maßnahmen braucht, etwa Beratungsbroschüren über das Umgehen mit einer Anzeige, so wie sie derzeit schon für Lehrer in Wien existiert

Logar: Wenn jetzt ganze Berufsgruppen von der Anzeigepflicht ausgenommen werden sollen, so ist das höchst bedauerlich - zumal in dem Entwurf nicht steht, was die Angehörigen dieser Berufsgruppen im Verdachtsfall statt dessen tun sollen. Auch Fallkonferenzen allein reichen nicht. Vielmehr muss jemand zur Verantwortung gezogen werden, wenn ein Kind misshandelt wird. Das muss sanktioniert werden.

Dimitz: Sanktionieren muss nicht automatisch anzeigen heißen.

Standard: Vor allem, wo viele Anzeigepflicht-Gegner doch kritisiert hatten, dass Minderjährige durch das rasche Einschalten der Polizei das Vertrauen zu ihren Helfern verlieren könnten. Frau Logar, ist Ihnen das nicht wichtig?

Logar: Das Vertrauensthema wurde in den letzten Wochen hochgespielt. Meiner Ansicht nach entsteht Vertrauen zu Opfern von Gewalt nicht dadurch, dass man ihnen signalisiert, wir tun eh nichts. Sondern wenn sie wissen, dass wir Gewalt nicht einfach gewähren lassen - und dagegen etwa in Form einer Anzeige vorgehen.

Dimitz: Das ist viel zu wenig individuell gedacht. Nicht alles, was für Erwachsene gut ist, ist auch automatisch für Kinder gut. Ein ethisches Prinzip der Sozialarbeit und anderer helfender Berufe lautet, dass das Selbstbestimmungsrecht des Klienten gilt - auch wenn das bei Kindern seine Grenzen hat. Dieses Recht ist in Gefahr, wenn mir als Helfer vom Gesetz das Vorgehen strikt vorgeschrieben wird.

Logar: Hier mit dem Selbstbestimmungsrecht des Klienten finde ich, ehrlich gesagt, ein bisschen zynisch. Wir wissen, dass vor allem kleine Kinder zu den Hochrisikogruppen bei häuslicher Gewalt zählen. Wo, bitte, liegt deren Selbstbestimmungsrecht, wie können sie sich äußern? Ich denke, dass wir die Anwälte dieser Kinder sind. Diese haben ein Recht auf Schutz vor Gewalt und auch ein Recht, dass Menschen, die sie misshandeln, bestraft werden.

Standard: Für weibliche Opfer von Gewalt ist dieses Recht im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes und der Arbeit der Interventionsstellen in Österreich großteils durchgesetzt worden. Kann man diese Erfahrungen auf Kinder übertragen, die auf ihre Misshandler meist stark angewiesen sind?

Logar: Schon, denn wenn eine Anzeige aufgenommen wird, bedeutet das doch fürs Erste nur, dass das Geschehen aktenkundig wird - und nicht gleich, dass jemand vor Gericht gestellt und verurteilt wird. Diese offizielle Untersuchung ist total wichtig. Sie kann nicht durch sozialarbeiterische Interventionen ersetzt werden. Sozialarbeiter können niemanden vorladen, können keine Gutachten darüber erstellen, ob ein Kind die Stiege heruntergefallen oder misshandelt worden ist. Das können nur Fachleute, die im Auftrag der Behörden vorgehen.

Dimitz: Das widerspricht dem Prinzip der Jugendwohlfahrt der Hilfe statt Strafe, nicht der Hilfe durch Strafe. Ich glaube, Frau Logar, hier liegt Ihr Denkfehler. Man muss zuerst versuchen, den Betroffenen zu helfen. Wenn das gelingt, entspannt sich die Situation. Das Strafsystem sollte erst nach diesem ersten Schritt aktiviert werden: Wenn es nicht gelingt, die Probleme der Gewalt anders zu lösen.

Logar: Ich hingegen plädiere für Hilfe und Strafe. Es kann doch nicht sein, dass man für Misshandlung an Kindern oder für Missbrauch straffrei ausgeht. Das können wir in unserer Gesellschaft nicht tolerieren.

Standard: Was tut man konkret mit einem solchen betroffenen Kind?

Dimitz: Man kann es laut Jugendwohlfahrtsgesetz zum Beispiel vorübergehend aus der Familie herauszunehmen. Dafür gibt es in Wien die Krisenzentren.

Logar: Aber das ist doch schrecklich! Warum soll in einem solchen Fall das Kind die Konsequenzen fühlen? Es hat das Recht, in seiner gewohnten Umgebung zu bleiben, so wie alle Opfer von Gewalt. Genau dafür wurde das Gewaltschutzgesetz ja eingeführt. Laut Gewaltschutzgesetz kann die Jugendwohlfahrt eine Einstweilige Verfügung gegen den gewalttätigen Elternteil beantragen, auf dass dieser aus der Familie weggewiesen wird. Aber das wird nur selten gemacht.

Dimitz: Unter anderem deshalb, weil es in zwei Drittel der Problemfälle gar nicht um körperliche, sondern um psychische Gewalt oder um Vernachlässigung geht. Da gibt es Kinder, die gefährdet sind, völlig zu verwahrlosen. Eine Wegweisung hilft da in der Regel wenig.

Standard: Denken Sie zum Beispiel an den Linzer "Fall Pöstlingberg", wo eine Frau ihre Töchter jahrelang von der Umwelt fernhielt?

Logar: So etwas fällt nicht unter das Gewaltschutzgesetz.

Dimitz: Laut dem ersten Novellenentwurf wäre das so gewesen. (Irene Brickner/DER STANDARD-Printausgabe, 25.6.2008)