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Türkische Fans bejubelten vor der Berliner Gedächtniskirche den Einzug ins Halbfinale. Am Mittwoch kommen sie wieder.

Foto: Getty Images/Gallup
Bisher kam Sami Ergün, Gemüsehändler im Berliner Ortsteil Wedding, recht komfortabel durch die EURO. An seinem Laden flattern drei deutsche und drei türkische Fahnen. Am Mittwoch aber wird es ernst, dann ist Schluss mit der nationalen Doppelgleisigkeit. "Ist doch klar, dass ich zu den Türken halte, auch wenn ich schon dreißig Jahre in Deutschland lebe", sagt er und äußert einen unerfüllbaren Wunsch: "Schön wäre es, wenn beide Mannschaften weiterkommen könnten."

So denken in Deutschland derzeit viele Menschen. "Mein Herz ist die Türkei, mein Verstand ist Deutschland", umschreibt Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, das Dilemma. 2,5 Millionen Türken leben in Deutschland, und bei der WM 2006 war alles noch viel einfacher. Die Türkei war nicht dabei, also jubelten unzählige Türken für die Deutschen. Doch nun, am Mittwoch, treffen die Türkei und Deutschland zum ersten Mal seit der WM 1954 in einem großen Turnier aufeinander..

Die Brisanz dieses Spiels ist auch den Boulevard-Medien bewusst. Zwar hofft Bild am Sonntag: "Das gibt ein Dönerwetter! Mittwoch weinen alle Türken." Doch die Chefredakteure der Massenblätter Hürriyet (Ertugrul Özkök) und Bild (Kai Diekmann) rufen gemeinsam zu friedlichen Feiern auf, da die deutsch-türkische Freundschaft von besonderer Bedeutung sei. Vor dem Spiel der Deutschen gegen Österreich hatte Bild noch 30 Gründe aufgezählt, warum "Ösis" ganz generell eigentlich nicht zurechnungsfähig seien. Vor dem Türkei-Match hingegen ging "11-mal Danke an die Türken" in Druck: "Sie kamen als Gastarbeiter und haben uns so viel von daheim mitgebracht." Döner, Ayran und den Regisseur Fatih Akin.

Belastetes Verhältnis

Dennoch bleibt Ungewissheit. Offiziell sind die deutsch-türkischen Beziehungen gut. Doch viele Türken verstehen nicht, warum sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel so vehement gegen einen Vollbeitritt der Türkei in die EU sperrt. Auch der Brand in einem Ludwigshafener Wohnhaus, bei dem im Februar neun Türken starben, belastete das Verhältnis, da manche Politiker und Medien in der Türkei sofort fälschlicherweise von einem fremdenfeindlichen Anschlag ausgingen. Obwohl zahlreiche Deutsch-Türken als Unternehmer in Deutschland tätig sind, fühlen sich Türken auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland als Bürger zweiter Klasse. Sie sind es, die den Dreck der Deutschen wegputzen, Autos waschen und Zeitungen austragen. Jetzt aber stehen ihre Spieler den deutschen Spielern endlich auf Augenhöhe gegenüber.

In Berlin, wo 500.000 Fans auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor erwartet werden, hofft die Polizei auf ein friedliches Fußballfest. "Es ist ein gutes Zeichen, dass viele Fans seit Tagen eine deutsche und eine türkische Flagge am Auto haben", sagt Polizeipräsident Dieter Glietsch. Dennoch hat Berlin Polizeikräfte aus anderen Bundesländern angefordert. In Hamburg erwartet Polizeisprecher Andreas Schöpflin, dass es "etwas ruppiger zugehen" wird - egal, wer gewinnt.

Damit auch alle Fans das Spiel sehen können, geben einige deutsche Unternehmen am Mittwochabend frei. Der in Istanbul geborene Daimler-Chef Dieter Zetsche lässt derzeit die Schichtpläne so erstellen, dass Daimler-Mitarbeiter das Spiel um 20.45 Uhr sehen können. Auch Porsche, Opel und der Elektronikriese ABB haben ähnliche Pläne.

Dass auch die Deutschen in höchster Aufregung sind, zeigt ein peinlicher, bundesweit belachter Patzer der ARD. Als Tom Buhrow in den Tagesthemen am Samstag moderierte, wurden im Hintergrund die türkische und die deutsche Fahne gezeigt. Die türkische war dabei korrekt abgebildet. Die deutsche jedoch zeigte statt "Schwarz-Rot-Gold" die bis dahin nicht gekannte Kombination "Rot-Schwarz-Gold". (Birgit Baumann aus Berlin/DER STANDARD-Printausgabe, 24.6.2008)