Altkanzler Fred Sinowatz zur gegenwärtigen SPÖ: "Es fehlt die Zukunftsbezogenheit, die Absicht, die Gesellschaft zu verändern. Es fehlt die Vision."

foto: DER STANDARD/Matthias Cremer

Die Heimat hat er nie verlassen: Fred Sinowatz verbrachte sein ganzes Leben in seinem Geburtsort, im nordburgenländischen Neufeld an der Leitha, etwa vierzig Autominuten von Wien entfernt. Als der SPÖ-Politiker und Historiker 1983 Kanzler wurde bezog er nur kurzzeitig eine Wohnung in Wien, die er rasch wieder aufgab: "Wir im Burgenland sind es gewohnt in Häusern zu leben".

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Der 79-Jährige sitzt im Rollstuhl an seinem Schreibtisch, hinter und neben ihm Regale mit vorwiegend geschichtlichen Büchern vom Boden bis zur Decke. Er schreibe momentan an seinen Memoiren sagte Sinowatz, mit leiser heiserer Stimme. Er selbst wollte nie Kanzler werden, tat es aber aus Loyalität Kreisky und der Partei gegenüber. Lieber wäre er gleich "Pensionist" geworden, sagte er schmunzelnd. Dann hätte er sich mit seiner Leidenschaft, den geschichtlichen Studien, beschäftigen können.

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Ende Juni 2008 hat derStandard.at den verstorbenen Altkanzler Fred Sinowatz in seinem Haus in Neufeld interviewt. Der Altpolitiker fand damals, dass der aktuelle Bundeskanzler Alfred Gusenbauer "unter seinem Wert geschlagen wird". Der "sehr moderne" neue SPÖ-Chef Werner Faymann habe durchaus das Potenzial die aktuelle SPÖ-Krise zu beenden. Diese sei im historischen Vergleich keine besonders große, jedoch fehlten dem Ex-Politiker die Visionen der Sozialdemokraten. Für die Zukunft sprach sich Sinowatz gegen eine Ausgrenzung der Strache-FPÖ als möglichen Koalitionspartner aus und er forderte, dass die SPÖ im nächsten Wahlkampf weiter auf der Abschaffung der Studiengebühren beharrt.

Im Interview mit derStandard.at sprach Sinowatz außerdem über die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, Fußball, Wein und was er mit dem berühmten Sager, "es ist alles so kompliziert" wirklich gemeint hatte. Die Fragen stellten Saskia Jungnikl und Rainer Schüller.

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derStandard.at: Herr Doktor Sinowatz, Sie haben in Ihrer Jugend Fußball in Neufeld gespielt. Auf welcher Position?

Fred Sinowatz: Ich habe mit großer Begeisterung als Stürmer gespielt. Aber es hat sich gezeigt, dass ich zwar gerne gespielt habe, aber kein großer Fußballer geworden wäre. Ich schau mir auch einige der EM-Spiele an, aber seit ich älter bin, dauert mir ein Fußballspiel zu lange. Aber die Österreich-Matches habe ich gesehen. Das Team war besser als erwartet. Nur waren die anderen noch besser.

derStandard.at: Ihr Tipp für den Europameister?

Sinowatz: Deutschland. Gegen meinen Willen. Weil die Deutschen zur Übertreibung neigen und man das Gefühl hat, dass sie auf Kommando alles mit 100 Prozent machen. Wir Österreicher haben die nötige Schlampigkeit.

derStandard.at: Und werden nie Europameister?

Sinowatz: Nein, nie!

derStandard.at: Einer Ihrer bekanntesten Sager ist: "Es ist ja alles sehr kompliziert". Wie ist der entstanden?

Sinowatz: In einem langen politischen Leben gewöhnt man sich daran, falsch zitiert zu werden. Das ist die Zusammenfassung eines Absatzes in meiner Regierungserklärung 1983, da hab ich ungefähr gesagt: 'Es ist eine Zeit, die sehr komplex geworden ist, sozial, wirtschaftlich, technisch. Daher gibt es nicht nur schwarz-weiße Entscheidungen, sondern man muss differenzieren. Eine Demokratie wird nicht funktionieren, solange die Leute nicht bereit sind, sich um die Hintergründe zu kümmern. Wenn man im ORF in 15 Sekunden die Welt oder eine kleinformatige Zeitung noch mehr als die Welt erklärt, wird unsere Welt so, wie die wollen.' Freunde haben damals schon gesagt: 'Mach das nicht, das kann missverstanden werden!'

derStandard.at: Stört es Sie, dass der Sager so verkürzt geblieben ist?

Sinowatz: Selbst wenn, könnte ich nichts machen. Aber immer mehr Menschen sagen: Naja, da hat er schon recht gehabt.

derStandard.at: Wie schwer wiegt die aktuelle Krise der SPÖ?

Sinowatz: Krisen gibt es immer; selbst bei uns als Menschen. Aber die Sozialdemokratie hat das Jahr 1934 und die Nazizeit überstanden: Unter diesem Licht betrachtet, ist die Krise nicht von dieser Qualität.

derStandard.at: Ist der neue SPÖ-Chef Werner Faymann jetzt der richtige Mann?

Sinowatz: Das könnte ich mir vorstellen. Er ist ein Politiker unserer Zeit: sehr beweglich, sehr modern. Seine Aufgabe ist schwer: der Partei jenen organisatorischen Rahmen zu geben, den sie braucht.

derStandard.at: Sozialphilosoph und SPÖ-Urgestein Norbert Leser hat in einem Interview mit derStandard.at gesagt, er sieht den Tod der sozialdemokratischen Bewegung. Sind Sie da einer Meinung?

Sinowatz: Nein. Ich kenn den Norbert Leser sehr gut, auch deswegen, weil wir ein bisschen verwandt sind. Meine Großmutter war eine Leser. Und der Norbert ist halt frustriert. In Wahrheit wäre er gerne Politiker geworden. Aber er ist keiner, der die Leute auf der Straße versteht.

derStandard.at: Innerhalb der SPÖ waren Parteispitze und Kanzler erst einmal getrennt nämlich zwischen Ihnen und Franz Vranitzky.

Sinowatz: Das war etwas anderes. Ich bin als Kanzler zurückgetreten, blieb aber zur Unterstützung von Vranitzky Parteiobmann. Kanzler zu werden war für mich keine Wunschkarriere. Mich hat die Personifizierung gestört: Es wird zu viel über Personen geredet und zu wenig über Inhalte und Planungen. Es ist unverkennbar, dass zuviel inszeniert wird.

derStandard.at: Sie haben selbst mit Marlene Charell getanzt und sind als Radler und Bobfahrer aufgetreten.

Sinowatz: Es gehörte zu meiner damaligen Aufgabe als Kanzler, die Bobbahn in Innsbruck weltweit bekannt zu machen. Gemeinsam mit Alois Lugger, dem damaligen Innsbrucker Bürgermeister bin ich mit dem Bob gefahren. Der Lugger ist zu Beginn am Bob hängen geblieben und hat die Hose aufmachen müssen, um los zu kommen. Ich hab während der Fahrt die Augen zu gemacht. Unten ist der Lugger aufgestanden und auf einmal ist er in der blauen Gattihosen da gestanden. Der Mann, der den Bob geführt hat, war übrigens Fritz Dinkhauser.

derStandard.at: Alfred Gusenbauer ist vor der Nationalratswahl 2006 Wandern gegangen.

Sinowatz: Der Gusenbauer ist fleißig, tatkräftig und ein sehr intelligenter Mann. Er wird unter seinem Wert geschlagen.

derStandard.at: Sie haben in einem Interview gesagt, Gusenbauer wird als Kanzler "die große Überraschung werden, weil er Standfestigkeit besitzt." Was ging schief?

Sinowatz: Es ist nicht leicht, wenn man vom ersten Tag an wegen seines Aussehens oder anderen Gründen kritisiert wird. Gusenbauer wurde von Beginn an herabgesetzt. Und er hat das durchgestanden. Wie es weiter geht, weiß man nicht.

derStandard.at: Wird er bis zum Ende der Legislaturperiode Kanzler bleiben?

Sinowatz: Ja. Wenn man alles wegnimmt, was medial berichtet wird, hat er in der Regierung im Grunde genommen vieles hingekriegt. Die Schwierigkeit liegt darin, dass erwartet wird, dass eine Gesundheitsreform – die das Komplizierteste überhaupt wird – im ersten Anlauf gelingt.

derStandard.at: Soll Gusenbauer der nächste SPÖ-Kanzlerkandidat sein?

Sinowatz: Das wird der Parteivorstand zu entscheiden haben.

derStandard.at: Karl Blecha hat in einem Interview mit derStandard.at gesagt, die SPÖ war früher die Partei der Moderne, voller Visionen. Heute scheint sie eher auf der Stelle zu treten. Was fehlt da?

Sinowatz: Es fehlt die Zukunftsbezogenheit, die Absicht, die Gesellschaft zu verändern. Es fehlt die Vision. Die kann man nicht erfinden, das geschieht durch Diskussion und durch Auseinandersetzung in der Partei.

derStandard.at: Sie kennen Gusenbauer und Faymann aus Ihrer Zeit als Parteivorsitzender. Wie waren die da?

Sinowatz: Ich kann ihre Unterschiede nicht so genau ausmachen, aber sie waren beide junge Revolutionäre. Das ist jetzt anders. Es ist das Vorrecht der Jungen, mit der Gegenwart unzufrieden zu sein.

derStandard.at: Kommt von der Jugend heute zu wenig Aufschrei?

Sinowatz: Es gibt einen Unterschied. Früher waren mehr junge Menschen bereit politisch zu denken und zu handeln. Es ist heute so, dass die Jungen nur schwer für politische Tätigkeiten zu gewinnen sind.

derStandard.at: Der relativ jungen Partei, den Grünen haben Sie kein langes Partei-Leben beschieden. Die stehen aber nicht so schlecht da.

Sinowatz: In Wahrheit hält sich das in Grenzen, denn die Grünen kommen nicht weiter. Ich glaube nicht, dass sie jemals eine Großpartei werden. Auch deshalb nicht, weil sie zu einseitig in ihrer Politik sind. Es genügt nicht, nur gegen eine Straße zu sein.

derStandard.at: Was ist mit der FPÖ?

Sinowatz: Die FPÖ ist eine – je nachdem wer sie führt – mit einem nationalen Hintergrund ausgestattete Partei, die dem Volk nach dem Mund redet. Aber der Höhepunkt war mit Jörg Haider gegeben und ist mittlerweile überwunden. Unter Heinz-Christian Strache werden so hohe Gewinne nicht möglich sein. Aber ich bin kein Prophet.

derStandard.at: Sollte die SPÖ mit den Freiheitlichen koalieren?

Sinowatz: Vielleicht wird es eine Zeit geben, in der so etwas in Erwägung gezogen wird. Aber das hängt davon ab, ob eine Partei – und das gilt vor allem für die Sozialdemokraten – moralisch in der Lage ist, eine solche Koalition zu führen. Bei der ÖVP ist es da leichter: das ist eine bürgerliche Partei, mit verschieden ausgerichteten Arbeitnehmern und Industrie, während die SPÖ aufgrund ihrer Geschichte eher eine ideologisch verankerte Gemeinschaft ist. Aber vielleicht wird Strache eine andere Gangart wählen.

derStandard.at: Das heißt, Sie würden die Strache-FPÖ als möglichen Koalitionspartner nicht ausgrenzen, wie es zu Haider-Zeiten mit der Vranitzky-Doktrin gemacht wurde?

Sinowatz: Wir müssen uns davor hüten, dass Maßnahmen, die vor zwanzig Jahren gesetzt wurden, heute noch Gültigkeit haben. Das ist das große Problem der Politik: das mit den Mitteln von gestern die Probleme von heute gelöst werden. Ich bin gegen eine Ausgrenzung.

derStandard.at: Der gesuchte mutmaßliche Nazi-Kriegsverbrecher Milivoj Asner lebt seit Jahren unbehelligt in Klagenfurt. Tut sich Österreich mit der NS-Vergangenheit noch immer schwer?

Sinowatz: Die NS-Vergangenheit wird nicht dadurch aufgearbeitet, dass drei oder vier Leute, die noch leben, zur Verantwortung gezogen werden. Ich bin da sehr skeptisch. Da muss man differenzieren. In der Nazizeit konnten junge Menschen, die eine berufliche Karriere angestrebt haben, dem System zwar nahe stehen, mussten deswegen aber noch keine Nazis sein.

derStandard.at: Auch diejenigen, die wirklich Verbrechen begangen haben, sollte man heute nicht mehr bestrafen?

Sinowatz: Wenn es echte Verbrechen waren, sollte man sie gerichtlich belangen. Aber man kann den Nationalsozialismus nicht ausschließlich so überwinden. Ich bin Historiker und beschäftige mich damit. Und es ist so widersinnig und furchtbar, wie tausende und abertausende von Juden umgebracht wurden, wegen nichts und wieder nichts. Solche grauenvolle Dinge kann man nicht mit den Schicksalen einzelner Menschen überwinden.

derStandard.at: Was halten Sie von der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der SPÖ durch den Bund Sozialdemokratischer Akademikerinnen und Akademiker, Intellektueller, Künstlerinnen und Künstler (BSA)?

Sinowatz: Ich war dagegen. Weil das eingetreten ist, was ich gesagt habe: bei der SPÖ ist es passiert, bei der ÖVP hat es nicht stattgefunden. Für mich persönlich war es interessant, aber zur Überwindung des Nationalsozialismus sind andere Dinge notwendig.

derStandard.at: Welche?

Sinowatz: Eine ehrliche, aufrechte, demokratische Haltung. Nach dem Krieg gab es zwar Prozesse gegen Kriegsverbrecher, aber die Lehrer redeten nicht darüber, weil die Eltern das nicht wollten. Ich war als Unterrichtsminister bemüht, politische Bildung zu vermitteln. Dagegen haben sich alle gewehrt.

derStandard.at: Sie sind mit einer 12-jährigen Amtszeit noch immer der Rekordhalter unter Österreichs Unterrichtsministern. Sie haben immer dafür gekämpft, dass unterprivilegierte Schichten Zugang zur Bildung erhalten. Sollte die SPÖ im nächsten Wahlkampf wieder die Abschaffung der Studiengebühren fordern?

Sinowatz: Na sicher. Ich bin überzeugt, dass die Gebühren früher oder später fallen werden, wie es jetzt in Hessen passiert ist. Die Einnahmen sind in einer Größenordnung, die vernachlässigbar ist.

derStandard.at: Trinken Sie immer noch jeden Tag ein Glaserl Wein?

Sinowatz: Nicht mehr jeden Tag. Ich vertrag nichts mehr. Jetzt trink ich manchmal Mineralwasser mit einem Schuss Wein.

derStandard.at: Rot oder weiß?

Sinowatz: Das ist egal.

derStandard.at: Alfred Gusenbauer trinkt gerne exquisite Weine. Was ist Ihr Lieblingswein?

Sinowatz: Ob der Wein schmeckt oder nicht ist für mich kein Maßstab.

derStandard.at: Was wären Sie lieber geworden als Kanzler?

Sinowatz: Pensionist. Ich lebe mit meinen Büchern, ich bin Historiker. Ich hab mich nie beschwert, aber die Ausübung einer höheren politischen Funktion ist auch schwierig: für die Familie, die Gesundheit, für alles.

derStandard.at: Was machen Sie zur Zeit?

Sinowatz: Ich bin nicht mehr nur Pensionist, sondern ich bin alt. Mir fehlt die Kraft. Ich habe bis zum Jahr 1970 eine Arbeit geschrieben, der zweite Band würde dann die andere Zeithälfte behandeln, aber ich bring die Kraft nicht auf. Ich habe das nach außen für meine Enkelkinder geschrieben, aber es sind Memoiren.

Ich schreibe sie mit der Hand und von Zeit zu Zeit kommt meine Sekretärin aus der Bundeskanzlerzeit und tippt sie ab. Was Computer angeht, bin ich leider nicht mehr dazu gekommen, was sehr wichtig gewesen wäre.

derStandard.at: Haben Sie Erfahrungen mit dem Internet?

Sinowatz: Nur indirekt. Meine Enkeltochter ist 24 Jahre und schreibt gerade ihre Diplomarbeit an der Universität und die berichtet mir, alles was im Internet interessant ist.

derStandard.at: Glauben Sie, ist die Welt durch das Internet einfacher oder komplizierter geworden ist?

Sinowatz: Die Welt ist durch die unerhörten Möglichkeiten – technisch, wissenschaftlich – komplizierter geworden. Als ist ein Bub war, sind wir oft in den Straßengräben gesessen und wenn einmal ein Flugzeug vorbei geflogen ist, war das eine Sensation. Als Student hab ich zum ersten Mal in der Auslage eines Geschäftes einen Fernsehapparat gesehen: heute sitz ich da und kann, wenn ein Hochwasser in Amerika ist, in Farbe und live alles miterleben. Das ist ein Wunder. (Saskia Jungnikl, Rainer Schüller, derStandard.at, 22.6.2008)