Foto: DER STANDARD/ Robert Newald

Ihren Durst stillte sie notdürftig durch den Morgentau am Stacheldraht. Die Rinde eines Baumes war ein Festmahl. Die Leichen wurden zu ihren Spielkameraden. Während des Erzählens schließt sie fest die Augen. Einerseits muss es schmerzhaft für Ceija Stojka sein, an die Orte ihrer Kindheit zurück zu kehren. Andererseits sieht man ihr die Anstrengung an, kein Detail auszulassen, auch wenn es noch so grausam ist. Die Romni hat drei Konzentrationslager überlebt, als sie mit vierzehn Jahren von den Engländern aus Bergen-Belsen befreit wurde, waren nur noch rund sieben von 200 Verwandten einer großen Roma-Familie der Lovara (übersetzt Pferdehändler) am Leben. Heute schreibt sie Bücher, malt, singt traditionelle Roma-Lieder und leistet engagierte Öffentlichkeitsarbeit.

"Hätten die Alliierten noch 14 Tage gewartet, wäre auch über uns letzten Überlebenden Gras gewachsen. Die Grube, in der wir hätten begraben werden sollen, mussten wir bereits ausheben", erzählt Stojka einer Schulklasse im Amerlinghaus. Das Treffen organisierte der Verein Exil. Die Jugendlichen sind um die sechzehn Jahre alt und hören aufmerksam zu. "Haben Sie den Eindruck gehabt, dass die SS-Leute das freiwillig gemacht haben, oder doch großteils eingeschüchtert waren?", fragt eine Schülerin. "Ich denke schon, dass viele das gerne und mit Leidenschaft gemacht haben", antwortet Stojka und berichtet von einem vierjährigen Mädchen, das vor ihren Augen von einem SS-Offizier erschossen wurde. Das Kind hatte einen Apfel in der Hand, der ihr nach dem tödlichen Schuss wegrollte. Der SS-Mann hob ihn auf und aß ihn.

"Am Anfang waren meine Buchstaben noch riesengroß"

Die Romni ist eine elegante Erscheinung. Ihre Haare sind blond gefärbt und in einem Zopf zurück gebunden. Sie schildert den Jugendlichen die Zeit, in der sie heran wuchs: "Menschen saßen zuvor miteinander am Tisch und plötzlich haben sie sich gegenseitig umgebracht. Das entstand durch schlimme Erziehung und schlechte Aufklärung." Viele Jahre hatte Stojka nicht über ihre Erlebnisse während des Nazi-Terrors gesprochen, doch Ende der 80er Jahre, mehr als 40 Jahre nach der Befreiung, brach es aus ihr heraus. Sie begann zu schreiben. "Egal was ich tat, immer waren die Blätter zum Schreiben mit dabei", sagt Stojka.

Der Schulbesuch wurde den Roma-Kindern von den Nationalsozialisten verboten, daher ging sie nach Kriegsende freiwillig in die zweite Klasse zurück. Rechnen konnte sie gut, Schreiben hatte sie sich hauptsächlich selbst beigebracht, weshalb ihre Schrift und die Rechtschreibung nicht sattelfest wurden. "Eigentlich wäre das Geschriebene für meine Kinder gewesen, denn die eigenen Kinder bekritteln ja nicht", erinnert sich Stojka. "Am Anfang waren meine Buchstaben noch riesengroß, das war ich so von der Schule gewohnt."

Aus dem Verborgenen heraustreten

Stojkas Aufzeichnungen waren nicht zur Veröffentlichung gedacht, doch es kam anders: Eines Tages rief die Filmemacherin und Historikerin Karin Berger an, da sie an einem Widerstandsbuch arbeitete und an einem Interview interessiert war. "Ich habe mich für meine Schrift und meine Rechtschreibung geschämt", erzählt Stojka. Dank hartnäckiger Überzeugungsarbeit stimmte die Autorin zu, ihre Aufzeichnungen herzugeben. Schließlich wurde "Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin", ihr erstes von mittlerweile insgesamt drei Büchern und einem Gedichtband, veröffentlicht.

Bilder eines Lebens

Später kam die Malerei dazu, die sich Stojka auch autodidaktisch beibrachte. Ihre Arbeiten werden international ausgestellt, Ausstellungen führten sie bereits bis nach Japan. Ihre Bilder signiert sie fast immer mit einem Ast, als Erinnerung an jenen Baum, dessen Rinde sie im Konzentrationslager aß und der sie und andere Gefangene vor dem Hungertod rettete.

Nach Stojkas Bericht haben die SchülerInnen die Möglichkeit, das Gehörte durch Zeichnungen zu reflektieren. Nach einer Stunde sind die weißen Blätter verschwunden, zu sehen ist der dichte Wald von Birkenau, Stiefel von Nazis, Konzentrationslager, Gitter, aber auch grüne Wiesen und Pferde, die den schönen Teil von Stojkas Kindheit widerspeigeln. Aus den Bildern wird deutlich: Die Romni hat mit den SchülerInnen ihre Erinnerungen nicht nur geteilt, sondern sie weitergegeben.

"An erster Stelle steht der Hunger"

Im Laufe des Tages spricht sie mehrmals die Themen Toleranz, Respekt und gegenseitiges Verständnis an. Denn Roma und Sinti werden weiterhin diskriminiert. Stojka hat durch ihre Geschichte ein eigenes Bild der aktuellen Debatte um bettelnde Roma und Sinti: "Uns Nachkriegskindern, um nicht lästig zu sein, ist das Hausieren geblieben. Wir haben zum Beispiel die Trümmerfrauen von ihren Elendskleidern befreit und mit schönen Stoffen versorgt. Das funktionierte sehr gut, aber wir hatten dabei mehr mit Menschen zweiter Klasse zu tun, denn die Erste Klasse hätte uns nichts gegeben."

"An erster Stelle steht immer der Hunger. Wer nichts geben will, der soll wegschauen", meint Stojka. Von den Cents, die man erbetteln kann, könne man sich keinen Mercedes und kein Haus kaufen. Aber man könne Semmeln und Brot kaufen. "Wenn ein Kind nicht betteln darf, hat es Hunger. Man hat ihnen die Chance verwehrt, dass sie so weit studieren konnten wie andere Kinder", sagt Stojka.

Die Romni lebt heute in Frieden mit ihren Verwandten in Österreich, doch immer wieder kommen Momente des Zweifels auf, ob die Sicherheit andauern wird: "Heute schreien die Menschen wieder 'Auschwitzlüge', dabei habe ich Auschwitz auf der Hand", sagt Stojka und zeigt auf die eintätowierte Nummer auf ihrem Arm. "Wie sollen wir, die Opfer, weiteratmen, wenn die Jugend heute teilweise wieder danach lechzt, 'Heil' zu schreien?" Stojka macht eine Pause und fährt dann fort: "Wir leben, wir sind frei und können frei entscheiden. Es wartet kein SS-Mann mehr auf uns. Ganz zufrieden kann man jedoch nicht sein, denn es gibt immer noch die andere Seite der Politik. Auschwitz ist im Tiefschlaf, aber es ist alles an Ort und Stelle und die Menschen gibt es auch noch dazu." (Julia Schilly, derStandard.at, 10.6.2008)