In einer Volksabstimmung haben die Schweizer Bürgerinnen und Bürger die Initiative der „Schweizerischen Volkspartei“ (SVP) des Milliardärs und vor einigen Monaten abgewählten Demagogen Christoph Blocher überraschend klar abgelehnt. Die Initiative „Für demokratische Einbürgerungen“ wollte die Entscheidung, ob ein Ausländer die schweizerische Staatsbürgerschaft erhält oder nicht, den Gemeinden überlassen. Diese sollten die Entscheidung nach ihrem Gusto selbst organisieren – durch eine Volksabstimmung, durch Einbürgerungskommissionen oder den Gemeinderat. Die Entscheidungen sollten obendrein endgültig sein und ohne Begründungspflicht erfolgen.

Diese Abstimmung ist in zweierlei Hinsicht exemplarisch: Erstens erteilte sie dem anachronistischen Demokratieverständnis der SVP eine Abfuhr und zweitens widerlegt der Ausgang ein paar insbesondere in Österreich und Deutschland populäre Vorurteile gegen Instrumente der direkten Demokratie – die Initiative für und das Referendum gegen Gesetze.

Das Demokratieverständnis des Hobby-Historikers Blocher und seiner Partei ist fundamentalistisch völkisch-demokratisch in dem Sinne, dass die Mehrheitsgesellschaft Minderheiten durch Volksabstimmungen ausschließen bzw. rechtlich diskriminieren will. Die SVP (miss)versteht Selbstbestimmung als Besitztum der Schon-Staatsbürger und nicht als egalitäre Chance aller in einem Land lebenden Menschen, unter klar definierten Bedingungen und in rechtsstaatlich einwandfreien Verfahren gleichberechtigte Bürger zu werden. Der Staat, der „sich selbst regiert“ muss „sich selbst einschränken“ (Kant), d. h. Rechte nach bestimmten Verfahren erzeugen und garantieren. Die selbsternannten Patrioten der SVO dagegen wollten (s. o.)

allein, ohne geregelte Verfahren und damit unter Aushebelung des Prinzips der Gewaltenteilung endgültig darüber entscheiden, wer in Lebens- und Denkart patriotisch-helvetisch genug erscheint, um Schweizer werden zu dürfen. Der Film „Die Schweizermacher“ (1978) von Rolf Lyssy hat die Wirkungen und Nebenwirkungen solcher „Demokratie“ sarkastisch vorgeführt.

Ein populäres Vorurteil macht plebiszitären Elementen in der Demokratie den Vorwurf, sie führten zwangsläufig zum demagogisch-demokratisch kaschierten Despotismus der Mehrheit im Sinne von Blochers Schweizermacher-Plan. Das geläufigste Argument gegen die direkte Demokratie lautet: Hätten wir hier die Möglichkeit von Volksentscheiden, käme morgen die Todesstrafe. Das greift entschieden zu kurz.

Der Zürcher Politikwissenschaftler Adrian Vatter hat ermittelt, dass in 50 Volksabstimmungen zwischen 1970 und 2007, deren Inhalt Minderheiten tangierten, in unter 60 Prozent der Fälle Mehrheiten zustande kamen, die eine oder mehrere Minderheiten benachteiligen. Dennoch ist die direkte Demokratie „nicht per se ein Instrument für die Mehrheit zur Tyrannei über eine Minderheit“ (Vatter). Die Wirkung von Plebisziten hängt viel mehr davon ab, ob und wie stark Minderheiten integriert sind.

Um Minderheiten – zum Beispiel Muslime – vor plebiszitären Anschlägen zu schützen, gäbe es etwa hierzulande – im Unterschied zur Schweiz ein starkes Korrektiv – das Verfassungsgericht. Die Vorstellung, alles und jedes könne einem Volksentscheid unterworfen, ist eben so abwegig wie die Vorstellung, Parlamentsmehrheiten könnten Grundrechte außer Kraft setzen.

Die langjährige Schweizer Erfahrung mit Plebisziten wie die aktuelle Entscheidung gegen Blocher zeigen im Übrigen, dass die geballte Propagandamacht der SVP nicht ausreichte, den Bürgern die politische Vernunft auszutreiben.

Gegenüber den nicht zu bestreitenden Gefahren von Elementen direkter Demokratie überwiegen jedenfalls allemal die Vorteile. Es wird in der Schweiz weniger, langsamer und vorsichtiger regiert, weil über allen Projekten das Damoklesschwert des Referendums oder einer Gesetzesinitiative des Volks hängt. Gesetzgeberische Fehlkonstruktionen und Schnellschüsse sind deshalb seltener als in den Nachbarländern der Eidgenossen.

Der Einwand, Volksentscheide unterlägen einer simplen Ja/Nein-Logik fällt denen, die ihn im Namen der parlamentarischen Weisheit erheben, auf die Füße: Der faktische Fraktionszwang macht parlamentarische Entscheidungen zur Farce. Das verkrustete Parteienwesen hat die Korrekturkräfte des parlamentarischen Systems gelähmt und die Distanz zum Souverän vergrößert.