Ohne jede Andeutung einer möglichen Kompromisslinie hat das türkische Verfassungsgericht am Donnerstagnachmittag in einer mit Spannung erwarteten Entscheidung die Kopftuchreform der Regierung für verfassungswidrig erklärt. Damit ist die Verfassungsänderung, die das Parlament im Februar mit den Stimmen der regierenden AKP und der nationalistischen MHP beschlossen hatte, nichtig.

Die beiden Parteien hatten zwei Artikel der Verfassung geändert, um künftig jungen Frauen zu ermöglichen, auch mit Kopftuch zu studieren. Knapp 20 Jahre zuvor, im Jahr 1989, hatte das Verfassungsgericht in einem Urteil festgelegt, dass das Kopftuch an Universitäten gegen das Laizismusgebot der Verfassung verstößt. Seitdem waren Kopftücher an den Universitäten verboten.

Im Streit um das Kopftuch symbolisiert sich in der Türkei der Streit um die Verfasstheit des Landes. Die herrschende Bürokratie einschließlich des Militärs, die kemalistische Opposition, aber auch ein großer Teil der säkularen Türken sehen sich durch die regierende AKP in ihrer Lebensweise bedroht. Sie befürchten, dass die Regierung von Tayyip Erdogan in Zusammenarbeit mit Präsident Abdullah Gül die Trennung von Staat und Religion aufweichen will und das Land einer schleichenden Islamisierung unterwirft.

Die AKP hält dagegen, dass durch das Verbot des Kopftuches an den Universitäten tausende junge Frauen um ihr Recht auf Bildung gebracht werden und bezweifeln überdies, dass die elf Richter des Verfassungsgerichts befugt sind, demokratische Entscheidungen des Parlaments einfach zu blockieren. Tatsächlich hatte man im Vorfeld damit gerechnet, dass die Verfassungsänderung nicht insgesamt für verfassungswidrig erklärt werden würde, sondern das Gericht stattdessen die Regierung verpflichten würde, durch ein Ausführungsgesetz klarzustellen, dass die Freigabe des Kopftuches auf die Universität beschränkt bleibt und nicht im gesamten öffentlichen Dienst oder auch an Schulen gelten würde.

AKP-Verbot denkbar

Mit der kompletten Zurückweisung der Kopftuchreform hat das Gericht nun auch ein Zeichen für das noch anhängige Verbotsverfahren gegen die AKP und das geforderte Politikverbot für Ministerpräsident Erdogan und weitere 80 AKP-Politiker gegeben. Mit der gestrigen Entscheidung dürfte klar sein, dass ein Verbot der Regierungspartei bevorsteht.

Der Generalstaatsanwalt wirft ihr vor, mit einer antilaizistischen Agenda das Land in einen Gottesstaat verwandeln zu wollen. Hatte man bis gestern noch auf einen politischen Kompromiss hinter den Kulissen gehofft, steht nun eine Konfrontation im Raum. Die Frage ist, ob die AKP ein Verbot hinnehmen wird, ohne ihre Anhänger zu mobilisieren? Die Szenarien reichen von einer Mobilisierung der Straße, um dann per Referendum eine neue Verfassung zu installieren, um dem Höchstgericht die Legitimation zu entziehen, bis hin zu Neuwahlen im Herbst. Was immer die AKP nun tut, wird vom Generalstab genau registriert: Die Drohung, den Laizismus notfalls auch mit militärischem Druck zu verteidigen, ist keineswegs vom Tisch. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 6.6.2008)

Nach dem Kopftuchver-bot an Unis durch das Höchstgericht droht politischer Machtkampf. Foto: AP