Wien – Wäre ich ein Wiener Philharmoniker, so müsste ich auf das Concertgebouw-Orchester seit Sonntagvormittag eifersüchtig sein. Denn das Musikvereinspublikum hat, als die Gäste aus Amsterdam das Podium betraten, diese mit wirklich ungewohnter Herzlichkeit begrüßt. Vielleicht hat die sich zu „Standing Ovations“ steigernde Begeisterung noch nachgewirkt, die sie schon am Abend zuvor unter Mariss Jansons, ihrem Chefdirigenten, vor allem mit Beethovens Fünfter geweckt haben.

Doch auch mit dem gestrigen Programm haben sie die in sie gesetzten hohen Erwartungen voll eingelöst. Denn mittlerweile sind sie und ihr Chefdirigent zu einem ebenso sensiblen wie auch robusten Klangorganismus verwachsen, von dem man nicht weiß, wer nun eigentlich die Töne produziert. Auf der einen Seite möchte man meinen, wenn Jansons ein Werk, sagen wir Mussorgskijs Bilder einer Ausstellung, die in Ravels Orchesterversion den eindrucksvollen Abschluss dieses Vormittags darstellten, in seiner einprägsamen und schlüssigen Gebärdensprache nachzeichnet, müsste man diese Musik auch ohne Orchester hören. Sie scheint ihm aus den Händen zu fließen.

Jansons hat sein gestisches Vokabular im Lauf der Jahre offensichtlich erweitert. Er hat sich von der Demutsstellung gegenüber dem Werk und dem Orchester voll emanzipiert und weiß nun auch in aufrechter Haltung mit erhobenen Armen seine einprägsamen Signale zu geben, zu herrschen und zu triumphieren. Wenn er im „Großen Tor von Kiew“, Mussorgskijs letztem Musikbild, zu jedem einzelnen Beckenschlag den unmissverständlichen Einsatz gibt oder die Dynamik im „Gnom“ unvermittelt von geräuschhaftem Holzbläserkolorit zu säuselndem Piano herunterschraubt, so geschieht dies mit höchster persönlicher Identität und doch auch in Kongruenz mit dem musikalischen Ablauf. Jede Phrase ein Atemzug, keinen Herzschlag zu kurz und keinen zu lang.

Andererseits wieder meint man, die Amsterdamer Gäste hätten die Absichten ihres Chefs in den vier Jahren, die er sein Amt bisher ausübt, soweit verinnerlicht, dass sie diese auch ohne ihn realisieren könnten. Doch ohne dieses prometheische Feuer, das Jansons in den Herzen seiner Musiker zu entzünden versteht, geht es wohl nicht. Schon gleich zu Beginn verbreiteten man mit Carl Maria von Webers Euryanthe -Ouvertüre das klangfarbige Licht der Romantik in all seinen Abstufungen. Und erst recht in Schumanns Frühlingssymphonie (Nr. 1). Das frühlingshafte Ungestüm, welches Schumann diese Symphonie zu Ende des Winters 1841 in nur vier Tagen hinschreiben ließ, wurde trotz der eher asketischen Thematik dieses Werkes spürbar vermittelt. (Peter Vujica, DER STANDARD/Printausgabe, 02.06.2008)