Manche Forschungsfragen stellen sich, wenn man einer Gesellschaft ausgesetzt ist "und dort nicht funktioniert": Der Slawistin Katharina Klingseis passierte das, als sie sich im vergangenen September für eine wissenschaftliche Arbeit im Ural aufhielt und meistens eine schwarze Lederjacke anhatte. Sie merkte, dass die Leute im Geschäft, in den Sammeltaxis und auf der Straße sie misstrauisch ansahen.
Das schärfte ihren Blick für eine neue Bedeutunsfacette dieses Kleidungsstücks. Neben und nach den Bildern der Jackenträger aus der revolutionären Phase der Sowjetunion, der Gangster und Biker, der frühen neuen, neureichen Russen und der Chauffeure und Studenten kamen hier die Menschen aus der kaukasischen Region dazu; und die werden in der Uralgegend als Fremde abgelehnt.
Das Besondere am schwarzen Leder konnte Klingseis im März ein weiteres Mal ausmachen: Der heute als Präsident vereidigte Dmitri Medwedew trat am Abend seines Wahlsiegs ebenso gewandet vor seine Anhänger - ein schlauer Schachzug, wie sie ihm in einem Arbeitspapier attestierte. Denn er ließ dadurch vieles möglich erscheinen, ohne dass eine bestimmte Gruppe ihn als "einen der Ihrigen" reklamieren konnte.
Kleidung als Diskurs
Klingseis untersucht Kleidung als Diskurs. Welche persönlichen und sozialen Erfahrungen drücken Menschen aus, wenn sie etwas Bestimmtes anziehen und anderes ablehnen? Welcher Kurswechsel signalisiert sich durch neue Moden, welche Vorstellungen verharren dennoch?
Im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts über "Modellierung des Selbst" geht es insbesondere um die postsowjetischen Kleidungspraktiken. "Jede Gesellschaft", sagt sie, "hat ihr System von akzeptierten Diskursen. Sie prägen im Foucault'schen Sinn, wie und wer man sein darf und wozu man das Recht hat. Das gilt auch für die Mode."
Folgt man dem Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim, dann kommen verdrängte Bedeutungen der Kleidung hinzu. Das heißt, man reagiert aggressiv auf Andersheit, und man merkt das erst, wenn man das Problem in einer fremden Umgebung bei sich selbst wahrnimmt.
Die aus Tirol gebürtige, an der WU tätige Kulturwissenschafterin verfolgt die Konflikte um die "richtigen" Codes bis in Details der Ungleichzeitigkeit. "Ein junger Doktor der Ökonomie war schockiert davon, welche Bedeutung an seinem Arbeitsplatz, einer Werbeagentur, seiner Kleidung beigemessen wurde. Er hatte noch gelernt, dass man Leute nicht danach beurteilen soll. Das ist ein Zusammenprall zweier Diskurse, den muss man überleben."
Auch die noch vor der Sowjetunion herrührende Rolle der Frau als Schmuck des Mannes, die alle Propagierung heldenhafter Arbeiterinnen überlebt hat, spielt in die heutigen Dresscodes stark hinein, eigentlich mehr denn je. Es sei den Russinnen unverständlich, wie wenig sich ihre westlichen Geschlechtsgenossinnen statusgemäß bzw. über ihren Status hinaus anziehen - was der Forscherin schon vor Jahren in der Moskauer U-Bahn schmerzlich klar wurde.
Extreme Erfahrungen
Methodisch geht Klingseis so vor, dass sie Personen in Moskau und Ekaterinburg nach ihren Kleidungspraktiken befragt. Dazu beobachtet sie deren Alltag und stellt Bezüge zwischen Mode und den Botschaften aus den Medien her.
Was als "Vorbildwirkung" oder "geheime Verführung" etikettiert werden könnte, wird von ihr theoretisch vertieft. Denn gerade in einer Umbruchgesellschaft wie Russland lassen sich Momente der Anpassung und des Widerstands besonders gut ablesen. Sie verweist auf die Arbeiten eines russischen, in Princeton arbeitenden Kollegen, Serguei Oushakine. Ihm zufolge müssen die Ausdrucksmittel für die extreme Erfahrung der Marktwirtschaft erst entwickelt werden. Dafür suchen die Bürger Anleitungen, sei es bei den Mainstream-Medien, sei es bei eher exzentrischen Modestrecken, die Klingseis auf Anpassung bzw. Rebellion untersucht.
Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch, wie unterschiedlich die Accessoires der Sechzigerjahre hüben wie drüben wahrgenommen wurden. Galten im Westen unter vielen politisierten Studenten kommissarmäßige Kleidung und Hammer-und-Sichel-Buttons als Ausdruck des Widerstands, hatte man unter Moskauer Dissidenten naturgemäß mit derlei absolut nichts am Hut.