Grand Theft Auto IV für PC, PlayStation 3 und Xbox 360.

„Life is complicated“, sagt er zu der Frau am gegenüberliegenden Tischende. Die Frau sieht verzweifelt aus. Sie ist in die Jahre gekommen und lebt an der Seite eines schizophrenen Kriminellen. Sie hat keine Angst vor ihrem Gesprächspartner, endlich hört ihr jemand zu. Jemand, der die Abgründe des Lebens selbst gesehen hat. Der darüber spricht, die Einbahnstraße, die sich Leben nennt, klar vor sich sieht. Jemand der am nächsten Morgen aufsteht, einen Anruf erhält, in eine Bar geht und 13 Menschen mit einer Pumpgun niederstreckt. Jemand, der vor einer Blutfontäne nicht zurückweicht. Jemand, der am Tisch mit der Frau eines Mannes sitzt, den er später auf die gleiche Art und Weise beseitigen wird, wie alle seine Probleme. Jemand, der trotzdem zuhört und lächelt. Dieser Jemand ist Niko Belic.

 

„I killed people, smuggled people, sold people.” Niko ist ein serbisch sprechender osteuropäischer Immigrant, der die Schrecken des Krieges zurücklassen und in den USA, in Liberty City, mit Hilfe seines Cousins Roman ein neues Leben anfangen möchte. Doch nur wenige Stunden nachdem das Schiff im Hafen eingelaufen ist, bemerkt er, dass sich hier zunächst nichts an seiner Lage ändern wird. Roman ist ein kleinkrimineller Niemand mit einem abgehalfterten Taxi-Unternehmen. Die einzige Chance rasch nach oben zu kommen, ist die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Niko hat nichts, also bleibt der linken Hand nur der Griff in den Schritt und der rechten Hand der Griff zur Waffe. Von nun an ticken die Uhren schneller. „Perhaps here, things will be different.“

Der Amerikanische Albtraum

In den Schuhen eines skrupellosen Mannes, der kein Zurück kennt, setzt man als Spieler den Schritt in den amerikanischen Albtraum. Die Stadt der Freiheit liegt zu Füßen und wartet darauf inhaliert zu werden. Nikos Weg aus der Gosse nach oben ist der rote Faden, Liberty City – eine perfide Hommage an New York City – ist die Spielwiese. Schrittweise rutscht man in immer tiefer in die Geschichte hinein. Anfangs geht es nur darum seinem Cousin aus der Patsche zu helfen. Ein paar Kredithaie verprügeln, seinem Namen den gebührenden Respekt verschaffen. Man ist der loyale Mann für alles, der drauf und dran ist sich aus der zu klein gewordenen Haut zu pellen. Die Ziele sind klar wie der Himmel bei Sonnenschein, der Weg bleibt einem selbst überlassen.

Sandkasten

Denn Grand Theft Auto IV (GTA IV) ist wie seine Vorgänger auf dem Sandkisten-Prinzip aufgebaut. Der Protagonist ist in eine komplett offene virtuelle Welt gesetzt. Die Stadt lebt, die Möglichkeiten sind vielfältig. Beim Spaziergang durch die Straßen laufen einem Passanten entgegen. Manche gehen ihren Geschäften nach. Tragen Einkaufstaschen in der Hand oder bekommen gerade einen Anruf über das Handy herein. Sie tratschen und fluchen, stolpern oder bringen sich vor dem herannahenden Regen in Sicherheit, denn wie im echten Leben ist auch hier das Wetter dynamisch. Tag und Nacht wechseln ebenfalls einander ab. Allerdings geht alles etwas schneller. Autos kutschieren über den Asphalt, bleiben bei roten Ampeln stehen, die Fahrer zahlen Maut, wenn sie über die Brücke von „Dukes“ nach „Bohan“ fahren. Gelegentlich passieren Auffahrunfälle. Der Vordere steigt aus, beginnt zu fluchen. Der Hintere entschuldigt sich oder ergreift die Flucht. Schon hört man in der Ferne die Sirenen von Rettungs- und Polizeiwägen heulen. Bars und Kabaretts stehen zur Vergnügung bereit. Shows können besucht werden. In Restaurants und bei Hot Dog-Ständen im „Middle Park“ kann man sich stärken.

Hand in Hand

Nikos Geschichte und das Treiben der Stadt gehen dabei fließend ineinander über. Über ein Handy erhält man als Spieler seine Aufträge. Darauf hin fährt man per Auto, Motorrad, U-Bahn oder Taxi zu einem ausgemachten Treffpunkt und hört sich die Ausgangssituation an. Brucie, ein durchgeknallter Garagenbesitzer auf Steroiden etwa verspricht Niko für das Klauen eines Wagens viel Geld. Dass dann zwei Typen dort auf einen warten werden, um einen umzubringen, erzählt er zwar nicht, aber so ist das Gangsterleben. Der Umgang mit Gegnern ist wenig zimperlich. Die Verständigung läuft in erster Linie über Schusswaffen. Stellt sich jemand in den Weg, wird er ins Jenseits befördert. Natürlich kann es passieren, dass Unschuldige zu Schaden kommen. Fußgänger, die durch das Schussfeld wandern, hinterlassen genauso wie die bösen Jungs hässliche Blutflecke am Trottoire. An Moral fehlt es allerdings nicht. Selbstverständlich werden Verbrechen geahndet. Wütet man zu sehr, verfolgt einen die Polizei. Will man nicht im Gefängnis oder Leichenschauhaus landen, muss man unbemerkt aus dem Fahndungsradius flüchten und kurzzeitig untertauchen.

Tsching-Bum-Film

Die Verfolgungsjagden und Schießereien sind dabei weit intensiver als in den Vorgängern. Niko kann sich hinter Mauervorsprüngen verschanzen, aus der Deckung schießen und zur Seite hechten. Kugeln, die ihr Ziel verpassen, hinterlassen markante Spuren. Autotüren werden durchsiebt, Fenster zerbröseln, Zapfsäulen explodieren und gehen in meterhohen Feuerbällen auf. Bei Verfolgungsjagden lassen sich die Reifen gezielt zerschießen. Der kaputte Gummi rollt nach der Zeit von der Felge. Das Fahrgefühl ist mit jedem Wagen der Type entsprechend unterschiedlich. Sportwägen sind ob ihrer Geschwindigkeit und kurzen Bremswege hervorragend, um sich aus dem Staub zu machen, während SUVs sich als ideale Rammböcke eigenen. Verpasst man eine Kurve und knallt gegen ein fixes Hindernis, segelt man geradewegs durch die Windschutzscheibe und küsst unsanft den Boden.

Spannende Geschichte

GTA IV wirkt in jeder Hinsicht realistischer. Neben der technischen Überarbeitung, den feineren Animationen, schärferen Texturen und physiklisch korrekt wirkenden Effekten, liegt das vor allem auch an den filmreif inszenierten Missionen und Schauplätzen. Die Dialoge zwischen den Akteuren sind glaubhaft. Charaktere sind feingezeichnet, jeder erzählt eine eigene Geschichte. Die Zwischensequenzen bilden nicht nur den Kleister, sie sind auch zumeist reinste Unterhaltung. Auf der Fahrt zu Aufträgen wird darüber diskutiert, ob man ein anderes Mal nicht auf ein Bier gehen möchte oder was die Freundin so treibt.

Sex, nicht nur Crime

Neben der optischen Verfeinerung hat GTA nämlich in der dynamischen Interaktion zwischen den Charakteren den größten Sprung nach Vorne gemacht. Niko ist kein Einzelgänger. Sein Cousin oder seine Freunde rufen ihn an, fragen, ob man mit ihnen etwas Trinken geht oder Lust auf eine Runde Bowling oder Billard hat. Soziale Kontakten können gepflegt werden. Passt es gerade nicht so gut, kann man sich für einen späteren Zeitpunkt etwas ausmachen.

Auch mit der Liebe ist es nicht weit. Niko lernt gleich zu Beginn Michelle kennen. Führt er sie artig zu Dates aus, darf er ihr sogar an die Wäsche. Das soziale Leben in Liberty City mag zwar simpel gestrickt sein, verleiht der Spielwelt aber eine bisher nicht gekannte Dichte. Ständig passiert etwas. Abseits des Haupthandlungsstrangs gibt es bei gut gestellten Kollegen immer wieder Nebenjobs zu holen. Einmal geht es darum, ein Straßenrennen zu gewinnen, ein anderes Mal darum über die Online-Kontaktbörse im Internet-Café ein Date aufzustellen. In astreinem Serbisch erhält man sogar Briefe der sorgevollen Mutter.

Markenwelt

Für die Inszenierung einer Welt haben die Schaffer von Rockstar Entertainment sogar ein ganzes Portfolio an Marken und Produkten entwickelt. „Whiz“ ist der ortsansässige Mobilfunker, „Pißwasser“ nur eine der erhältlichen Biersorten. Der Erwerb von Waffen gehört zum Alltag dazu. Gun-Clubs werben in Fernsehspots mit geselligen Treffen. Zu sagen, man betrete mit dem Spielen von GTA moralische Abwege, käme einer Untertreibung gleich. GTA IV ist bis Dato die Spitze des Sündenbergs. Erzählt man Arbeitskollegen von den Taten, die man in diesem Spiel vollbracht hat, erntet man nichts als schiefe Blicke, obwohl man selbst die ganze Zeit dabei schmunzeln muss. Aber was kann schon so lustig sein, mit 100 Sachen betrunken über den Times Square zu rasen, das Heck ausbrechen zu lassen, um den nächst besten Passanten über die Kreuzung zu katapultieren?

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Tom und Jerry

Das Geheimnis liegt darin verborgen, dass sich GTA auch heute noch nicht zu ernst nimmt. Die Dialoge sind vulgär, politisch unkorrekt und dennoch stets humorvoll. Liberty City und die Geschichte Nikos sind klischeehaft und durchgehend menschenfeindlich. Prostituierte lassen sich am Straßenrand aufgabeln, für ihre Dienste (übrigens drei verschiedene) bezahlen und - die Möglichkeit besteht - , auch umbringen. Genauso wie auch jeden anderen in dieser aus den Ufern geratenen Welt. Aber es ist wie bei einem Quentin Tarantino-Streifen: der Humor ist tiefschwarz, die Gewalt komplett überzeichnet und danach hat man weder das Bedürfnis im echten Leben Amok zu laufen noch seine Frau zu verprügeln. Denn bei all den Unmöglichkeiten, die einem die virtuelle Welt bietet, bleibt der Tenor comichaft. Man sieht keine Eingeweide herausquellen oder abgetrennte Gliedmaßen. Die Rettung kann auch zweimal Überfahrene wiederbeleben. Kinder gibt es in dieser Welt erst gar nicht. Es ist ja auch ein Spiel für Erwachsene.

Die vier im Jeep

Wahlweise übrigens auch für mehrere. Erstmals können Konsolenspieler über das Internet auch gemeinsam die Straßen Liberty Citys unsicher machen. Der Mehrspielermodus erlaubt bis zu 16 Teilnehmern gleichzeitig in zahlreichen Varianten gegeneinander und miteinander anzutreten. Als besonders unterhaltsam erwiesen sich im Test der Team-Deathmatch-Modus, in dem man in Gruppen gegeneinander kämpft, sowie der „freie Modus“, bei dem die Welt, so wie man sie aus dem Einzelspielermodus kennt, bestehen bleibt. Zu mehrt potenzieren sich die Möglichkeiten. „Die vier im Jeep“ bekommen eine ganz neue Bedeutung. Je nach Bedarf lassen sich Spiele erstellen oder man tritt Partien spontan bei. Freunde können eingeladen werden, die Kommunikation geschieht dabei über das Headset.

Feinschliff

Wie auf den Bildern zu sehen, ist GTA mit dem vierten Teil aus den 3D-Kinderschuhen gewachsen. Es ist kein Zufall, dass das neue Kapitel nach dem 3D-Debüt mit GTA III wieder in Liberty City spielt. Der Kontrast könnte nicht stärker ausfallen. Endlich, ist man versucht zu sagen, ist GTA auch optisch auf der spielerischen Höhe der Serie angelangt. Die Menschen wirken tatsächlich wie Individuen, überall an jeder Fassade glitzern kleine Details. Mit dem Hubschrauber – Flugzeuge gibt es nicht – lässt sich die Weite des Betondschungels überblicken. Wolkenkratzer ragen empor, Neonlichter lassen die Nacht erleuchten. Im Boot auf der See lässt sich das Wetter am Wellengang ablesen. Der vanillefarbene Himmel zur Mittagszeit kann rasch in eine neblige Dämmerung übergehen.

Genauso feinsinnig verhält es sich mit der astreinen englischen Sprachausgabe. Die Charaktere wurden hochwertig synchronisiert und sind dabei auch ohne Untertitel zumeist gut verständlich. Wieder einmal sticht der Soundtrack heraus, der über die Radiosender in den Autos zur Geltung kommt. Neuerdings können einzelne Songs auch gekauft werden, Rockstar Entertainment ist hierfür eine Kooperation mit Amazon eingegangen. Die MP3s sind nicht kopiergeschützt.

Unterhaltung im Überschuss

Insgesamt bietet GTA IV genug Unterhaltung für mehrere Wochen und Monate. Allein die Kernmissionen verschlingen je nach Spielerfertigkeit 25 bis 40 Stunden. Kleinere Frustmomente sind hie und da nicht auszuschließen, aber der Spielfluss leidet darunter eigentlich nur selten. Mit sämtlichen Nebenmissionen und vor allem dem durch und durch gelungenen Mehrspielermodus ist der von Konsolenspielen bekannte exorbitante Anschaffungspreis von rund 65 Euro mehr als gerechtfertigt. Es ist zu hoffen, dass sich andere Spielehersteller künftig daran ein Beispiel nehmen werden.

Abstriche

Bei allem Lob für Verbesserungen - GTA IV ist mit Sicherheit kein perfektes Spiel. Beispielsweise ist die Spielwelt seit GTA San Andreas zum ersten Mal wieder kleiner geworden. Ausflüge aufs Land sind nicht mehr möglich. Auch ist das Freizeitangebot übersichtlicher - wohin sind die Rennbahn und das Glücksspiel? Das verdiente Geld in den Missionen kann zum Schluss kaum noch ausgegeben werden. Auch wurde der Fuhrpark dezimiert. Zwar gibt es einen Flughafen, jedoch lassen sich Flugzeuge nicht mehr fliegen. Technisch ist man auch noch weit entfernt von der Perfektion, in Relation betrachtet übertreffen die Verbesserungen allerdings die Erwartungen. Schlussendlich spiegelt GTA IV wie damals GTA III einen Generationenwechsel wider. Weshalb zu hoffen ist, dass all die kleinen Wünsche mit den kommenden Auskoppelungen erfüllt werden.

Fazit

So ist Grand Theft Auto IV in Summe ein neuer Meilenstein in der Videospielgeschichte. Entwickler, die in Zukunft eine spannende Geschichte über Videospiele erzählen wollen, werden sich an GTA IV messen müssen. In einer Zeit, in der die Studios versuchen die Masse mit Casual-Games zu ködern, setzt Rockstar Entertainment ein klares Zeichen: Spiele können auf Augenhöhe mit großen Filmen den Anspruch auf erstklassige Unterhaltung für Erwachsene stellen. Dass die Thematik dabei so kontrovers ausfällt, liegt in der Natur der Sache. Das Gangsterleben ist nur beim Abgang rosarot.
(Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 4.5.2008)