Alexander Meng ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er lebte bis zu seiner Matura in Peking und studierte danach in Wien Medizin. Seit 1972 beschäftigt er sich intensiv mit der TCM. Er ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur, war bis 2005 Leiter der Schmerz-Akupunkturambulanz der Neurologischen Abteilung im Krankenhaus Lainz und ist Autor von "Gesundheitsvorsorge mit TCM" (Springer Verlag).

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STANDARD: Wie anerkannt ist Traditionelle Chinesische Medizin im Westen?

Meng: Ärzte der chinesischen Medizin sind nur in China der westlichen Medizin gleichgestellt. Außerhalb von China haben sie keine Berechtigung, eine Diagnose zu stellen und keine Berechtigung, Arzneien im Sinne der westlichen Medizin zu verschreiben. Das heißt, weltweit hat sich seit der Renaissance die naturwissenschaftliche Medizin durchgesetzt. Denn diese ist lern-, lehr- wiederhol- und nachweisbar. Alle anderen sind nicht leicht zu erlernen, nicht leicht zu lehren und durch die individuelle Betrachtung nicht so wiederholbar. Viele mühevolle klinische Studien warten noch auf Verwirklichung.

STANDARD: Heißt das also, dass komplementäre Methoden komplexer sind?

Meng: Nein, weil die moderne Medizin auch ganzheitlich denkt. Es gibt zwar viele Fachrichtungen. Aber dem modernen Neurologen ist durchaus bewusst, dass auch die Psyche, Umwelt und soziales Umfeld eine wichtige Rolle spielen. Das heißt, auch die westliche Medizin denkt ganzheitlich.

STANDARD: Was ist im Sinne der TCM ganzheitlich?

Meng: Raum, Zeit und Mensch bilden eine Einheit. Das heißt: Der Lebensraum spielt eine Rolle. Menschen in südlichen Ländern verhalten sich anders als im nördlichen Europa. Die Zeit ist als Jahreszeit und Lebensphase von Bedeutung: Im wärmeren Frühling ist die Stimmung ganz anders als im düsteren Winter. Ein junger Mensch setzt andere Prioritäten als ein älterer. Die Stärke der Naturmedizin liegt darin, aus verschiedensten Informationen etwas zu machen. Eine Stärke, die aus der Not heraus, nicht in den Körper hineinzusehen, entstanden ist.

STANDARD: Dementsprechend anders ist auch die chinesische Diagnostik.

Meng: Am wichtigsten ist die Befragung des Patienten, aber auch das Sehen, Riechen und Tasten gehört zu den vier diagnostischen Methoden. Zum Tasten zählt die Pulsdiagnose, zum Sehen die Zungendiagnose. Aber auch der Körpergeruch, die Art, wie ein Mensch spricht oder sich bewegt, wird mit einbezogen. Aus diesen nicht apparativen Methoden erhält der Arzt sehr viele Informationen, die zu einem Modell und einer Entsprechung führen.

STANDARD: Was bedeutet Entsprechung?

Meng: Die Stärke der Traditionellen Chinesischen Medizin ist die andere Betrachtungsweise. Die Betrachtungsweise mit Yin und Yang, den fünf Elementen, den Meridianen und den acht Prinzipien. Das ermöglicht es dem chinesischen Arzt, Patienten aus einer anderen Betrachtungsweise als der Schulmediziner zu sehen. Mit einer neuen Zuordnung und anderen Zusammenhängen. Ein Beispiel der Entsprechung wäre es, bei Kreuzschmerzen die Nierenenergie zu stärken. Das hat nichts mit dem Organ Niere zu tun, sondern ist symbolisch im System zu sehen - und kann so viel heißen wie: Lebe in einem Lebensrhythmus, halte Ruhephasen ein, und nimm eine Zeitlang Ginseng.

STANDARD: Die Traditionelle Chinesische Medizin kennt fünf Therapiekonzepte. Weshalb ist in Europa vor allem die Akupunktur, die nur in 20 Prozent der Fälle angewendet wird, so erfolgreich?

Meng: Es hat sich gezeigt, dass im Besonderen bei therapieresistenten Fällen die Akupunktur unterstützend wirkt. Das heißt, bei Schmerzpatienten mit funktionellen oder psychosomatischen Störungen kann man erreichen, dass schon wenige Schmerzmittel besser wirken. Das ist der eine Grund. Zusätzlich findet die Akupunktur an der Körperoberfläche statt. Sie ist ertastbar und damit nachweisbar. Das heißt: Schmerzhafte Punkte oder Bereiche, die wir schulmedizinisch als Nervensystem, Blutgefäße, Muskelketten und Lymphe kennen, werden quasi "direkt" behandelt. Das ist auch für moderne westliche Mediziner nachvollziehbar und greifbar. Deshalb konnte sich gerade die Akupunktur sehr gut etablieren.

STANDARD: In der klassischen TCM-Behandlung wird die Arzneimitteltherapie in China wesentlich häufiger eingesetzt. Weshalb wird sie in westlichen Fachkreisen nicht anerkannt?

Meng: Die Arzneimitteltherapie hat tatsächlich Schwierigkeiten. Gemische aus pflanzlichen, tierischen und mineralischen Stoffen werden gekocht und getrunken. Diese enthalten bis zu 20 Einzelpräparate, die wieder eine Vielzahl an Substanzen und Wirkstoffe beinhalten. Damit wird der Nachweis der Wirkung nach modernen medizinischen Richtlinien sehr schwierig. Der Nachweis, was, ob und wie es wirkt, konnte bis heute nach westlichen Kriterien noch nicht erbracht werden.

STANDARD: Weshalb, glauben Sie, wird in dieser Hinsicht nicht mehr geforscht?

Meng: Das liegt daran, dass es wenige Standardrezepturen gibt, und das hat damit zu tun, dass die Behandlung individuell erfolgt, da es keine zwei gleichen Menschen gibt. Aber wenn wir Anerkennung haben wollen, müssen wir trotzdem den standardisierten, wiederholbaren Nachweis für die moderne Medizin erbringen.

STANDARD: Immer wieder werden Einzelsubstanzen wegen ihrer Toxizität diskutiert.

Meng: Man weiß tatsächlich sehr wenig über die Toxizität, da man auch sehr wenig über die Wirkstoffe weiß. Deshalb darf die Anwendung nicht leichtfertig als natürlich und ungefährlich betrachtet werden. In China ist es sogar üblich, manche Substanzen als intramuskuläre und intravenöse Injektionen zu verabreichen. Das ist in keinem westlichen Land denkbar und hat seinen Grund: Der Nachweis der unschädlichen Wirkweise ist nicht erbracht.

STANDARD: Ein weiteres Thema ist die fehlende Klassifizierung, die seit Jahren im Gesundheitsministerium diskutiert wird: Manche Pflanzen wie Ingwer oder Ginseng sind sowohl Lebensmittel als auch Bestandteile von Arzneimittel-Rezepturen. Wie erkennt der Laie, ob Vorsicht geboten ist?

Meng: Ingwer, Ginseng oder Chrysanthemenblüten sind als Nahrungsmittel kein Problem. Sobald aber in der TCM von Arzneien die Rede ist, ist Vorsicht geboten. Die Voraussetzung für chinesische Arzneimittel-Rezepturen ist eine entsprechende ärztliche Untersuchung mit einer modern medizinischen und einer TCM-Diagnose. Wenn auf einer Packung "Gut für die Haut" steht, heißt das nicht, dass die Inhaltsstoffe tatsächlich für den Einzelnen geeignet sind. Auf das kann und soll man sich nicht verlassen.

STANDARD: Sind TCM und Schulmedizin ein Widerspruch?

Meng: Nein, ich wünsche mir, dass die beiden Systeme ergänzend eingesetzt werden. Jedes System bietet die Vorteile seiner Betrachtungsweise und kann dem Wohl des Patienten dienen, und beide Systeme können einander bereichern. (Andrea Niemann, DER STANDARD, Printausgabe, 28.4.2008)