Chai-Verkäufer an den Ghats.

Foto: Knut Rakus

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Foto: Knut Rakus

An kaum einem Ort in Indien erlebt man den Subkontinent in einer derartigen Intensität wie in Varanasi, dem ehemaligen Benares. Wir erreichen die Stadt nach einer langen Zugfahrt hinab aus den Höhen des Himalaya.

Sonnenaufgang am Ganges

Die Zugfahrt war noch einmal eine sehr indische. Mit siebenstündiger Verspätung erreichen wir mitten in der Nacht unser Ziel. Die anschließende Quartiersuche zieht sich. Mit einer Rikscha kurven wir durch die dunkle Stadt. Leider erschwert der Wildwuchs an Copycat-Unterkünften und das weit verbreitete Kommissionssystem dem Reisenden tatsächlich und unmittelbar das Hostel seiner Wahl anzusteuern – nicht selten findet man sich statt im hochgelobten "Om Shanti Hostel" im grindigen "Shanti Om Hostel" des Onkels des Rikschafahrers gleich um die Ecke, oft auch ist das angegebene Ziel voll, abgebrannt, geschlossen etc. Nach einiger Zeit werden wir aber trotz der späten Stunde doch noch fündig. Nach vier Stunden Schlaf sind wir aber wieder auf den Beinen um das Erwachen der Stadt und den Sonnenaufgang am Ganges zu erleben und den Morgen mit einer frühmorgendlichen Bootsfahrt einzuweihen.

Bei unserem Besuch dominierte natürlich auch in Varanasi der Monsun den Alltag. Der Ganges führte Hochwasser und die Befestigungsanlagen und Kais entlang des Flusses waren zum größten Teil überschwemmt. Derart gedrängt war das gesamte Treiben am Ufer. Pilger, Sadhus (heilige Männer), Gurus, Verkäufer, Begräbnisbesucher, Leichen und einige wenige Touristen – alle drängen sich innerhalb von wenigen Metern entlang des Flusses oder in den engen Gassen dahinter.

Varanasi ist eine der heiligsten Städte Indiens und eine Stadt des Gottes Shiva. Seit mehr als 2.500 Jahren pilgern Gläubige in die Stadt, die zudem ein Zentrum traditioneller hinduistischer Kultur und Wissenschaft ist.

Bad im Ganges

Hier im Ganges zu baden und später hier zu sterben ist der Traum vieler Gläubiger. Ein Bad im Ganges soll von den Sünden des Lebens befreien. In Varanasi zu sterben und verbrannt zu werden soll dazu beitragen, den Kreislauf der Wiedergeburt zu unterbrechen. Den ganzen Tag über ist der Himmel erfüllt mit dem Rauch hunderter Verbrennungsfeuer. Leichen werden hier dekoriert und mit Beigaben versehen entlang des Ufers aufgebahrt und alsdann verbrannt. Während der gesamten langwierigen Zeremonie spielt der älteste Sohn eine zentrale Rolle. Zum Schluss umrundet er den aufgebahrten Körper dreimal und entzündet dann das Feuer.

Varanasi war die letzte Station der Indienetappe dieser Reise. Sieben Stunden nördlich von Varanasi überqueren wir nahe Gorakhpur die Grenze nach Nepal. Nach diesem ersten Grenzübergang möchte ich hier noch kurz die vergangenen Wochen in diesem wunderbaren Land Revue passieren lassen. Indien fasziniert mich seit vielen Jahren und trotz intensiver Beschäftigung und einigen Aufenthalten lernt man das Land immer wieder aufs Neue kennen.

Gesellschaftliche Stellung der Frau

Einer der für mich größten und schockierendsten Schwachpunkte Indiens ist nach wie vor die gesellschaftliche Stellung der Frau und die dadurch asymmetrisch wirkende Gesellschaftsstruktur. Da Frauen in meinem "Entwicklungsdenken" eine große Rolle spielen, bin ich überzeugt davon, dass es ohne eine Verbesserung in diesem Bereich keine nachhaltige Entwicklung in Indien geben wird. Dies klingt hart, war doch die Entwicklung seit der Unabhängigkeit Indiens enorm. Aus einem ökonomischen Blickwinkel gesprochen, wird gut die Hälfte der Bevölkerung vom Erwerbsprozess ausgeschlossen. De facto ist es erheblich weniger, weil weibliches Leben oft als minderwertig angesehen wird und es Gebiete mit eklatant weniger Frauen als Männern gibt. Dieses Phänomen hat der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen "missing women" genannt. Neben diesem Ausschluss von ökonomischen Prozessen ist es aber vor allem der Ausschluss von gesellschaftlichen Prozessen der dem Besucher stark auffällt. Das Straßenbild ist stark von Männern geprägt, fast jeglicher in der Öffentlichkeit sichtbar ausgeübte Beruf (Taxi, Eisenbahn, Post, etc.) wird ausschließlich von Männern ausgeübt, und dies geht weit über klassische Männerberufe hinaus.

Ungemeine Vielfalt

Dennoch ist mir seit meinen letzten Aufenthalten in Indien schon eine Änderung (Verbesserung) der Situation aufgefallen, diese geht von den Städten aus und wird noch lange brauchen ehe sie die Hochburgen der Tradition – die ländlichen Dörfer erreicht. Einer der Aspekte, die mich so sehr an Indien faszinieren, ist die ungemeine Vielfalt an Kulturen, Sprachen, Klima, Flora, Fauna etc. In keinem anderen Land ist es möglich in einer Woche einen 7.000er zu erklimmen, in einer Wüste eine Kamelsafari zu machen, an einem endlos langen Sandstrand zu baden und anschließend durch dichtesten tropischen Urwald zu streifen. Die Vielfalt spiegelt sich auch im indischen Alltag wieder. Auf den ersten Blick ein Chaos, ist er ein eng miteinander verwobenes Netz aus Mikrounternehmern, die sich alle ergänzen und so ein großes Ganzes ergeben.

Außerdem bewundere ich an Indien die Akzeptanz von vielen verschiedenen Wegen zu spirituellem Glück. Werden in anderen Gebieten dieser Erde blutige Kriege zwischen Religionsgruppen ausgefochten, existieren in Indien Hindus, Moslems, Christen und tausende Sekten, Glaubensgemeinschaften, Animisten etc. nebeneinander. Sicher ist dieses Miteinander nicht immer friedlich (Kashmir, Bombay-Bomben etc.), aber dies basiert lediglich auf einer politischen Instrumentalisierung, und nicht auf einer generellen Nichtakzeptanz der verschiedenen Gruppen. Es gibt keine Staatsreligion, keine staatliche Unterdrückung religiöser Gruppen. Was in Kashmir passiert, ist meiner Meinung nach ein politischer Prozess, der entlang der Glaubensgrenzen gewaltsam instrumentalisiert wird und keinesfalls eine Art "Glaubenskrieg". Nebenbei bemerkt ist Indien auch noch eine funktionierende Demokratie – die größte der Welt. Ihr letzter Präsident war Muslim, der Ministerpräsident Sikh, die Parteiführerin der größten Partei (Congress) eine gebürtige Christin und Italienerin – die Mehrheit des Landes Hindus. (Knut)