Augusto Boal, ein Theatermacher beim Interview-Ritual.

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Ob Theater die Justiz ändern kann und warum das Wort Resozialisierung gefährlich ist, besprach Michael Möseneder mit dem Theatermacher Augusto Boal und seinem Sohn Julian.

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STANDARD: Herr Boal, Sie halten für das Justizministerium einen Theaterworkshop mit Richtern und Staatsanwälten ab. Stehen die nicht ohnehin ständig auf einer Bühne? Schließlich haben sie Kostüme an und folgen festgelegten Abläufen?

Augusto Boal: Es stimmt, die Gesellschaft ist voller profaner Rituale, seien es die Vorgänge in einem Gerichtssaal oder bei einem Sonntagessen in der Familie. Bei den Richtern ist es einfach sichtbarer.

STANDARD: Ist auch dieses Interview so ein Ritual?

Augusto Boal: Ja, das Interview ist auch eine Art Theater.

STANDARD: Rituale und Theater sind dasselbe?

Augusto Boal: Beide sind aufsehenerregend. Es ist wie mit einem Löwen, der brüllt, um akustisch seine Anwesenheit zu zeigen. Oder einem Hund, der an die Hausecke pinkelt um sein Revier über den Duft markiert. Bei den Menschen geht Machtanspruch über Bilder.

Julian Boal: Der Unterschied ist, dass sie beim Löwen natürlich sind, menschliche Rituale aber die Gesellschaft schafft. Aber dann können wir die Rituale auch ändern.

STANDARD: Aber hat ihr Theater der Unterdrückten das geschafft? Haben Sie etwas verändert?

Augusto Boal: Wenn eine Methode, die aus der südlichen Hemisphäre kommt, heute in der ganzen Welt praktiziert wird, ist das ja schon eine große Veränderung. Aber auch praktisch haben wir Beispiele: Wir arbeiten in psychiatrischen Kliniken, die Patienten dort brauchen um 80 Prozent weniger Medikamente.

STANDARD: Wie schaut es bei Häftlingen aus?_Könnte das Theater auch bei der Resozialisierung helfen?

Augusto Boal: Resozialisierung ist ein gefährliches Wort, weil es impliziert, dass die Gesellschaft perfekt ist und der Böse wieder eingegliedert werden muss. In den Gefängnissen sind die Häftlinge aber nicht nur in einem Raum eingesperrt, sondern auch in der Zeit – es gibt zu wenig Möglichkeiten etwas zu lernen oder sich anders zu betätigen. Vor allem hat der Staat für einen Job nach der Entlassung zu sorgen.

Julian Boal: Man muss sich außerdem fragen, warum die Menschen Verbrechen begehen: 90 Prozent der Delikte sind Eigentumsdelikte. In einer gerechten Gesellschaft, wo jeder das Recht auf Essen und Bildung hätte, würde die Kriminalität zurückgehen. Warum soll man Menschen in eine Gesellschaft zurückbringen, die Kriminalität produziert?

STANDARD: Die Grundregeln Ihres Theaters besagen, dass es für, von und durch Unterdrückte ist. Sind Richter und Staatsanwälte wirklich unterdrückt?

Augusto Boal: In gewisser Weise schon. Bei einem Workshop in Frankreich haben wir festgestellt, dass sich Richter etwa bei einem Diebstahl auf die Anzeige der Polizei verlassen müssen. Wenn aber der Polizist den Täter einfach nicht gemocht hat, haben es die Richter schwer, das ist eine Unterdrückung ihrer Entscheidungsfreiheit. (Michael Mösenender, DER STANDARD; Printausgabe, 9.4.2008)