Fünf 68er auf dem Boden des "Roten Salons" (sic!): Agnes Streissler, Josef Pröll, Eva-Maria Marold, Markus Brier, Leo Szemeliker (v.li.). Fotos: Heribert Corn; Ausstattung: Interio

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Rebell der Blasmusik: Josef Pröll

Sängerin Eva Maria Marold, Volkswirtin Agnes Streissler, Golfer Markus Brier und Minister Josef Pröll haben zumindest eines gemeinsam: das Geburtsjahr 1968. Standard-Redakteur Leo Szemeliker, auch Jahrgang '68, setzte sich mit ihnen auf bunte Decken und Polster und fragte nach, was "diese Generation" ausmache.

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STANDARD: Was verbinden wir hier mit unserem Geburtsjahr?

Streissler: Die ersten Sachen, die mir einfallen, sind San Francisco, Paris. In Österreich dürfte alles sehr verhalten gewesen sein.

Pröll: Ich bin in einer sehr kleinen ländlichen Gemeinde aufgewachsen – mir ist erst im Gymnasium bewusst geworden, dass es ein spannendes Jahr war. In politischen Diskussionen hieß es immer: Die 68er kommen. Dann habe ich erst nachgeschaut, was damals passiert ist.

Marold: Mir geht's ähnlich. Zum Thema sollte man vielleicht unsere Eltern als Zeitzeugen einladen. Ich komme aber auch aus einer kleinen Gemeinde am Land: Meine Eltern waren weder Hippies noch haben sie revoltiert. Ich empfinde mich aber auch nicht irgendeiner Generation zugehörig.

Brier: Bei uns war damals eher Hausbauen und Hausrenovieren Thema.

STANDARD: In Deutschland sind wir die "Generation Golf" – nicht nach dem Sport von Markus Brier, sondern dem Auto. In den USA waren wir "Generation X". Und bei uns?

Marold: Das ist eine Schubladisierung, man gibt Dingen Namen, damit alle wissen wovon man redet. Ich fühle mich eigentlich alterslos, ich feiere meinen Geburtstag nicht.

Brier: Wer ist schon vierzig hier?

Streissler: Ab April.

Pröll: September.

Marold: Dezember.

Brier: Juli.

STANDARD: Oktober. Die Zeitung zwanzig, der Schreiber vierzig.

Pröll: Wir sind eine der ersten Generationen, die vom "Ruachln" der Eltern profitiert und in die Erbengeneration hineingewachsen ist. Wir sorgen dafür, dass die Kurbel läuft, aber kommen nicht aus dem Nichts.

Marold: Aber es sind auch erste Abnützungserscheinungen zu sehen.

STANDARD: An uns?

Marold: An dem, was die Eltern aufgebaut haben. Auch am System. Wir müssen jetzt Risse ausbessern.

Streissler: Unsere Elterngeneration hat noch sagen können: Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir. Mit diesem Anspruch tun wir uns alle miteinander sehr schwer.

Brier: Es wird aber in der Gesellschaft so getan, als ob das immer so weitergehen könnte.

STANDARD: Vierzig Jahre nach 1968 wackelt das Dogma vom ewigen Wachstum. Es wird wieder um eine gerechte Verteilung gestritten.

Brier: Man darf das alles aber nicht immer vom Finanziellen her sehen. Es geht auch um andere Werte.

Pröll: Solche Ansichten können wir uns aber als erste Generation wirklich leisten. Für unsere Eltern war es notwendig, auf Quantität zu schauen statt auf Qualität.

Brier: 1974 hat es den "autofreien Tag" gegeben.

Pröll: Damals hat man aus ökonomischen Gründen das Auto für einen Tag stehengelassen. Heute sind wir bei der Qualität der Ökologie. Wir sind Anfang der 70er noch zum ersten Supermarkt nach Stockerau gepilgert, 40 Kilometer, das war ein echtes Happening.

Streissler: Wir sind hier aber schon eine privilegierte Gruppe. Ich glaube, dass die Verteilungsfrage eine sehr drängende und sehr ökonomisch ist.

Marold: Mir kommt vor, dass die Bereitschaft von damals, auf das Auto zu verzichten, größer war als heute – ein reines Bauchgefühl.

STANDARD: Zwei Generationen vor uns: Nationalsozialismus, Krieg. Die Generation vor uns bekämpfte die Enge, mancherorts wurde eine kleine Revolution gestartet. Was prägt unsere Generation?

Streissler: Eigentlich begleitet mich seit meinem 18. Lebensjahr der Gedanke der Politikverdrossenheit. 1986, im Waldheim-Jahr: Wir haben im Radio über den Bericht der Historikerkommission gehört. Das war so enttäuschend. Man hat wieder nicht gewusst, was los war. Und irgendwie wurde weitergewurschtelt. Das Weiterwurschteln ist seit damals ein Erleben des täglichen politischen Umfelds bis heute.

Pröll: Bei uns am Tisch ist immer politisiert worden – mit dem Erwin natürlich. So gesehen war das Waldheim-Jahr extrem spannend. Da sind Dinge aufgebrochen. Bei mir ist aber noch etwas anderes dazugekommen. Der Hans-Hermann Groër war bei uns im Gymnasium Hollabrunn Religionslehrer. Die Kirche ist mit ihm in eine Krise geraten, aus der sie bis heute nicht herausgekommen ist.

Brier: Alles schon weit weg, etwa auch wenn man an Hainburg denkt.

STANDARD: Die Aubesetzung 1984.

Pröll: Aber noch nicht ganz weg. Hainburg war trendgebend für die Bürgerbeteiligung.

Brier: Wir haben in Hainburg ein Wochenendhaus gehabt und waren jeden Sommer dort. Ich war mit 16 nicht aktiv dabei. Aber ich habe gesehen, was da los war. Das waren Menschenmassen.

Marold: Mit 16 hab ich andere Sorgen gehabt. Politisch wachgerüttelt bin ich worden, als ich studiert habe.

Pröll: Für mich war es der erste Aufstand im Elternhaus.

Brier: Wegen Hainburg?

Pröll: Ja. Im extrem konservativen Bauerndörfl habe ich gesagt, ich habe Sympathie für die. Ich war damals in der Blasmusikkapelle mit meiner Meinung im Widerstand gegen die engste Umgebung.

STANDARD: Ich stelle fest, es gibt doch gleiche Anknüpfungspunkte.

Streissler: Weil es die gleichen Erinnerungen gibt. Aber die, die 1968 zwanzig waren, waren auch keine so homogene Generation.

Pröll: Ich glaube aber schon, dass das 68er-Jahr für unsere Sozialisierung den Boden bereitet hat. Anfang der 70er Jahre ist das politische Klima in Österreich anders geworden.

STANDARD: Noch ein paar 68er-Schlagwörter: sexuelle Revolution, freie Liebe, Summer of Love – obwohl, der war ja schon 1967. Als wir dann so weit gewesen wären, war Aids eine reale Bedrohung und die Party vorbei.

Streissler: War es wirklich Aids? Ich glaube nicht. In glaube vielmehr, dass wir traditionelle Bilder übernommen haben. Mir waren Beziehungen immer wichtig.

Marold: Ich glaube, das war damals schon Blödsinn. Man hat es vielleicht praktiziert, das – ich sag jetzt nicht das Wort, das mir einfällt. Aber ich glaub nicht, dass das damals psychisch oder seelisch funktioniert hat. Klinge ich jetzt altmodisch?

Brier: Ich glaube nicht.

Pröll: Aber die sexuelle Revolution, die Freizügigkeit um die Zeit, als wir geboren wurden, hat uns schon einen entspannteren Umgang mit Sexualität gebracht. Das heißt aber nicht, dass wir einen anderen Zugang zu Beziehungen haben. Sexualität ist bei uns zu Hause ein ganz normales Thema. Wir sind die erste Generation, die das mit den Kindern entspannt, ohne Wegschauen und ohne Rotwerden besprechen kann.

Marold: Aber an der Sehnsucht nach Beziehungen hat sich nichts geändert. Warum sollte es auch?

Brier: Der Unterschied ist, dass man jetzt offener drüber reden kann.

Pröll: Wir leben eigentlich ein stinknormales Leben. Ich weiß nicht, ob wir uns nicht sogar in Richtung Biedermeier bewegen …

STANDARD: Die "richtigen 68er" schaffen das neue Biedermeier? Eine Reaktion auf die Kinder, die sich in MySpace entleiben?

Pröll: Das ist der Gegentrend zu total global und Internet – das natürlich super ist. Aber: Die Sehnsucht nach Kleinräumigkeit ist wieder da.

Streissler: Das ist auch ein bisschen das Gefühl der Machtlosigkeit. Entwicklungen wie der Klimawandel …

Pröll: ... den werden wir bremsen!

STANDARD: Hier spricht der Umweltminister.

Streissler: … oder die supranationalen Konzerne. Als Einzelner hat man wirklich das Gefühl, man kann überhaupt nichts machen. Da schau ich wirklich lieber auf meine kleine Welt.

STANDARD: Bedeutet das, wir warten auf die nächste Generation, weil wir mit vierzig schon zu alt und angepasst sind?

Brier: Unsere Generation kann sehr wohl noch etwas machen. Man hat mehr Erfahrung und mehr gelernt als ein Zwanzigjähriger, man hat vielleicht nur weniger Zeit.

Streissler: Ich habe manchmal heute noch das Gefühl, ich bin noch nicht richtig erwachsen.

Brier: Wir sitzen auch auf dem Boden herum.

STANDARD: Wir hätten auch Sessel ...

Brier: ... geht schon noch.

STANDARD: Ich fürchte, große Revolutionäre werden wir hier nicht mehr.

Marold: Eine Revolution muss nicht laut sein und auch nicht gewaltsam.

Pröll: Die schleichenden Revolutionäre.

Streissler: Es kommt auf Hartnäckigkeit an.

Brier: Wir gehen doch noch nicht in Pension.

Pröll: Noch einmal, was war bei uns in der Schule Thema: Löst sich der Kommunismus auf? Der Eiserne Vorhang? Pershing-II-Raketen! Was sind die großen Projekte jetzt?

STANDARD: Globalisierung, Klimawandel.

Pröll: Ja, aber die sind so weit weg. Und nicht von Menschen evident gesteuert. Damals hieß es: Sowjetunion gegen USA, wenn die aufeinander losgehen, zerreibt's uns.

Streissler: Damals hat man noch auf die großen Friedensdemonstrationen gehen können.

Brier: Jetzt ist alles anonymer. Aber wir hätten noch genug Energie, um etwas zu verändern, könnte man argumentieren. Aber bevor man sich mit den großen Problemen belastet, sagen viele: Die Zeit, die ich habe, verwende ich für mich selbst. Ich kenn das vom Sport.

Marold: Es müssen eben die Mosaiksteinchen passen, damit das Ganze besser wird.

Brier: Wenn jeder seinen eigenen Weg geht, ist das vielleicht zum Wohl der Allgemeinheit.

STANDARD: Ein Ansatz, der derzeit mit der Finanzkrise ad absurdum geführt wird.

Brier: Ja, ich weiß.

Streissler: Wir sind alle skeptischer geworden, gleichzeitig gibt es eine Entideologisierung. Es gibt nicht nur mehr Schwarz und Weiß. Es ist heute anders als 1968, als sich Ideologien eindeutig gegenübergestanden sind.

Pröll: Aber es gibt auch die Auslöser nicht mehr. Wo sind die Entzündungspunkte in dieser Gesellschaft? Es gibt ein großes Ziel in Österreich, in Europa, das heißt: Wohlstand. Jeder hat andere Konzepte, um das Ziel zu erreichen. Eine Revolution ist aber nicht notwendig. 1968 ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer gewesen.

Marold: Die Frage ist: Was ist arm? In uns werden heute Bedürfnisse geweckt, die früher gar nicht existent waren.

Streissler: Wenn jemand in den 60er-Jahren keinen Fernseher gehabt hat, dann war er sicher nicht arm. Wenn heute ein Kind sagt, ich habe zu Hause keinen Fernseher – kann man sagen: eh ein blödes Kastl. Aber das Kind ist arm, es kann nicht mit den anderen mithalten.

Marold: Genau hier sollte eine Revolution stattfinden, wenn Sie wissen, was ich meine.

Brier: Aber eine Gefahr birgt das Thema doch. In Paris haben vor gar nicht langer Zeit in den Vorstädten die Autos gebrannt. Das war doch schon ein Ansatz einer Revolution.

Streissler: Da ist sie wieder, die Verteilungsfrage. Hier haben wir aber eine ganz große Verantwortung, das Feld eben so aufzubereiten, dass es eben nicht zur Revolution kommt, dass es richtige Integrationsansätze gibt, dass es Respekt zwischen den Kulturen gibt, dass man dennoch schaut, dass Ressourcen gleich verteilt werden.

Brier: Bei uns ist die Kluft aber doch geringer.

Streissler: Ein Million Österreicher lebt unter der definierten Armutsgrenze. Jetzt kann man sagen, das ist relativ. Aber ich bin froh, dass ich nicht zu dieser einen Million gehöre.

Pröll: Das führt mich zurück zu 1968. Ich stamme aus einer kleinbäuerlichen Familie und bin als Erster ins Gymnasium gegangen. Meine Eltern haben mir nicht mehr bei den Hausübungen helfen können. Und trotzdem haben sie mir alles ermöglicht. Es wäre dann ungerecht, wenn der Staat jemanden an den Chancen hindern würde. Das war vielleicht früher so, heute sehe ich das bei weitem nicht.

Streissler: Aber optimal ist die Situation nicht. Instrumente wie positive Diskriminierung sind wichtig, was die Frauen betrifft wie auch die Bildung. Es gibt in Österreich angeblich 100.000 Menschen inzwischen 16 und 18 Jahren, die in keiner Lehre, keiner Schule und in keinem Job sind. Wenn das stimmt, haben wir hier eine massive Verantwortung.

STANDARD: Zu Beginn dieses Gesprächs hieß es: Welche Generation? Und jetzt haben wir doch viel gefunden, was "wir" sind, tun sollten und nicht machen. Es gibt also mehr als Erinnerungen an "Wickie, Slime und Paiper".

Marold: Aber, eins muss ich schon sagen: Damals hat man am Vormittag, wenn man krank war, Lisa Schüller mit dem Russischkurs gesehen. Jetzt sind wir in der EU, und es gibt im ORF keine Sprachkurse mehr? Ein Wahnsinn.

Pröll: Gute Anregung. Vielleicht sollte man die ORF-Gebührenerhöhung dafür verwenden.

STANDARD: Damit wären wir in der Tagespolitik, also weg von 1968, daher hören wir hier auf. Ich hoffe, der Boden war nicht zu unbequem. (DER STANDARD Printausgabe, 5./6.4.2008)