"Die Österreicher sollten sich fragen: Wie kommt es, dass diese Menschen dreißig Jahre hier leben und die Staatsbürgerschaft nicht haben wollen?": Kenan Kilic

Foto: Christian Fischer

Die Gastarbeiter der ersten Generation würden von der Politik noch immer "ignoriert", meint Filmemacher Kenan Kilic, der mit seiner Dokumentation "Gurbet – In der Fremde" zurzeit bei der Grazer Diagonale vertreten ist: Man habe den TürkInnen "nichts angeboten, damit sie hier kulturell ankommen". Dass sie nicht bereit zur Integration seien, glaubt Kilic nicht: "Sonst wären sie schon längst weg." Das Gespräch führte Maria Sterkl.

derStandard.at: Alle ihrer neun ProtagonistInnen wollten ursprünglich nur für ein paar Jahre hier bleiben. Warum sind sie nie in die Türkei zurückgekehrt?

Kilic: Bis auf eine Ausnahme haben alle dieser neun Menschen Kinder und Enkelkinder hier. Österreich ist zu ihrer zweiten Heimat geworden, sie haben hier Lebenerfahrung und Zukunftsperspektiven gewonnen. Ihnen ist aber auch klar, dass sie nicht mehr zurück können.

derStandard.at: Einer der GastarbeiterInnen ist Hüseyin Ates. Er ist 73 Jahre alt und wohnt hier allein, seine Kinder leben in der Türkei. Er sagt selbst, nur "Menschen ohne Verstand" würden ihr Alter so verbringen. Warum kehrt er nicht zurück?

Kilic: Ich kenne ihn seit sechs Jahren. Immer sagt er: "Vielleicht gehe ich nächstes Jahr zurück." Ein Jahr später sagt er das Gleiche. Und immer noch ist er da. Es hat familiäre Gründe: Seine Kinder haben seit 40 Jahren keine Vaterbeziehung, da gibt es eine starke Entfremdung. Er könnte sich dort auch nicht mehr wohlfühlen. Nach einem Monat in der Türkei kann er nicht mehr ruhig sitzen, eine innere Stimme sagt ihm, dass er nach Wien, in seine Heimat, gehen soll.

derStandard.at: Wäre es besser gewesen, er wäre nicht gekommen?

Kilic: Das kann ich nicht sagen. In den Sechzigerjahren sind die meisten Männer ohne Familie hergekommen. Erst später haben sie Frau und Kinder nachgeholt. Er hat das nicht gemacht, und er sagt, das war sein größter Fehler, weil er heute allein in seinen vier Wänden sitzt und nicht weiß, ob er morgen gesund aufsteht oder nicht. Aber ich kann nicht beurteilen, ob er besser in der Türkei geblieben wäre. Jeder lebt sein Leben.

derStandard.at: Die ProtagonistInnen leben seit dreißig, vierzig Jahren in Österreich. Warum haben Sie die Interviews trotzdem auf Türkisch geführt?

Kilic: Manche von ihnen waren auf Deutsch viel zurückhaltender, hatten nicht so viele Bilder, konnten nicht so gut aus dem Bauch sprechen, weil der Kopf immer dabei war.

derStandard.at: Wie viel Kontakt haben die Interviewten mit ihren "österreichischen" Nachbarn?

Kilic: Der Großteil hat wenig Kontakt in der Nachbarschaft. In der Türkei ist ja Nachbarschaft fast wichtiger als Familienkontakte – mit Familienmitgliedern trifft man sich besuchsweise, aber die Nachbarn hat man täglich. Darum haben die Nachbarn eine wichtige soziale Funktion. Wenn einer in einem Dorf neu einzieht, geht die ganze Ortschaft zu seinem Haus und begrüßt ihn. In Österreich haben sie das ganz anders erlebt: Hier ist man verschlossener, vergisst leichter, die Nachbarn zu besuchen. Es scheiterte auch an den Sprachkenntnissen.

derStandard.at: Hat es auch mit Rassismus zu tun?

Kilic: Anfangs nicht. Da wurden sie sehr herzlich empfangen. Wenn sie jemanden auf der Straße gefragt haben, wurde ihnen geholfen. Heute deuten sie an, dass es ganz anders ist. Man kann sich bei Jörg Haider und H.C. Strache dafür bedanken.

derStandard.at: "Hier bin ich Ausländer, in der Türkei bin ich Deutschländer", sagt einer der Interviewten. Wie fremd sind sie wirklich in Österreich?

Kilic: Sie sind Teil dieser Gesellschaft, aber von der Politik werden sie immer noch ignoriert. Darum können sie sich nicht richtig mit Österreich identifizieren. Da die Türkei die Leute damals nicht informiert und auf die neue Heimat vorbereitet hat, da Österreich damals den Menschen nichts angeboten hat, damit sie hier kulturell ankommen, sind sie gespalten. Sie haben Geld verdient, sich etwas geschaffen. Aber sie haben ihre Seele nicht in den Griff bekommen.

derStandard.at: Sie werden vom Staat immer noch ignoriert?

Kilic: Natürlich. Die Integrationspolitik hat versagt. Sie sind seit 40 Jahren hier und haben weder aktives noch passives Wahlrecht.

derStandard.at: Warum beantragen sie die Staatsbürgerschaft nicht?

Kilic: Anfangs wollten sie keine andere Staatsbürgerschaft als die türkische. Als sie merkten, dass sie hier bleiben würden, haben viele die Staatsbürgerschaft angenommen. Aber manche eben nicht. Und ab einer bestimmten Zeit war es für sie auch uninteressant, weil sie ein unbefristetes Visum hatten. Wenn ein Mensch 30 Jahre lang in einem Staat lebt, und nicht einmal wählen kann, dann gibt es ein Demokratiedefizit.

derStandard.at: Wenn sie wählen wollen, können sie sich einbürgern lassen. Wer hindert sie daran?

Kilic: Natürlich hindert sie niemand daran. Aber viele Österreicher sehen sie nicht als Mitbürger. Sie fühlen sich als Ausländer. Und da sie hier auch nicht gleichberechtigt alle Positionen erreichen können, warum sollen sie die Staatsbürgerschaft unbedingt annehmen? Die Österreicher sollten sich fragen: Wie kommt es, dass diese Menschen dreißig Jahre hier leben und die Staatsbürgerschaft nicht haben wollen? Liegt es nicht auch an der österreichischen Politik, dass man ihnen zu wenig angeboten hat, um ihnen das Gefühl zu geben, dass sie hier zu Hause sind?

derStandard.at: Manche sagen, sie seien nicht bereit zur Integration.

Kilic: Absolut nicht. Die, die seit 40 Jahren in Österreich leben, sind längst bereit. Aber Österreich wollte sie nicht akzeptieren, wie sie sind. Diese Menschen leben dankbar in Österreich. Sonst wären sie schon längst weg.

derStandard.at: Sie zeigen im Film nur eine liberale Spielart des Islam. Man sieht einen Prediger, der alle Muslime als ungläubig verurteilt, die nicht auch an die Bibel der Christen oder den Talmud der Juden glauben. Wo bleibt hier die Ausgewogenheit?

Kilic: Was dieser Prediger sagt, ist der Glaube des Islam. Jesus und Moses sind Propheten für uns, das müssen auch die konservativsten Muslime in Afghanistan oder im Iran zugeben. Und die Gastarbeiter, die ich interviewt habe, denken anders die Muslime in Afghanistan oder Iran. Ich spreche aber von den Gastarbeitern.

derStandard.at: Trotzdem ist es nur eine Seite, die Sie zeigen.

Kilic: Die Vorurteile gegenüber Muslime stärker geworden, und auf diese Sprache wollte ich nicht reinfallen. Ich wollte mich dem Islam auch auf keiner analytischen Ebene nähern, das interessiert mich nicht. Ich erzähle ja keine Geschichte über den Islam, sondern eine über die erste Generation türkischer Migranten in Österreich.

derStandard.at: Welche Veränderungen merken die Gastarbeiter, wenn sie heute auf Besuch in der Türkei sind?

Kilic: Ältere hatten in der Türkei traditionell einen höheren Stellenwert. Heute ist das aber nicht mehr so. Wenn du Geld hast, kannst du Macht ausüben – auch einem 70-Jährigen gegenüber. Wenn die Gastarbeiter heute im Alter ins Dorf kommen, in ihre kleine Welt, werden sie nicht mehr akzeptiert. Damit können sie schwer umgehen.

derStandard.at: Der Innenminister hat eine Diskussion über die „österreichischen Werte“ eröffnet. Was halten Sie davon?

Kilic: Es ist zu spät, aber trotzdem okay. Das hätte man vor dreißig, vierzig Jahren machen sollen.

derStandard.at: Wie würden Sie die österreichische Identität beschreiben?

Kilic: Mit ihren Traditionen, mit der Art zu kommunizieren, wie man hier mit Frauen umgeht, wie man mit dem Gesetz umgeht, wie man mit Glauben umgeht.

derStandard.at: Wer solche Beschreibungen trifft, engt die Identität ein. Damit grenzt man andere aus.

Kilic: So starr sollte das nicht sein, dass das zu einem „Muss“ wird. Es sollte aber jeder informiert werden – und dann kann jeder individuell entscheiden, ob er etwas annehmen will oder nicht. Man kann niemandem sagen, ob er in die Kirche oder in die Moschee gehen soll. Aber informiert werden ist wichtig: Wie ist dein Gebet, wie ist meines? Wo treffen wir einander? Ich tanze so, du tanzt so. Beides ist Bewegung. (Maria Sterkl, derStandard.at, 3.4.2008)