Wirft sich mutig in die Partie des Éléazar, kann aber stimmlich nicht überzeugen – Chris Merritt an der Stuttgarter Oper.

Foto: Martin Sigmund
Zwar überzeugte der Chor, doch konnte das Sängerensemble das Niveau nicht halten.

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Für die Grand Opéra bedarf es heute schon des besonderen Einsatzes. Im Falle von Halévys Die Jüdin (1835) kommt hinzu, dass die Rezeptionsgeschichte nicht nur ausgebremst wurde – das Feld mit den monströsen Langzeitwerken wurde ziemlich einseitig von Wagner in Beschlag genommen. Zudem: Die Nazis haben dem doppelten jüdischen Märtyrertod auf der Bühne den Rest gegeben. Nun haben Jossi Wieler und Sergio Morabito versucht, den Fünfakter musikalisch vollständiger als sonst und szenisch gleichzeitig als schlüssige Geschichte und als Kommentar zu den Grenzen und Möglichkeiten ihrer Rezeption auf die Bühne zu bringen.

Am Pult bemühte sich Sébastien Rouland um ein sozusagen authentisches Idiom, auch der Chor bewältigt seinen Part intensiv, wenn es ums Auflodern der Leidenschaften und das beängstigende Massen-Unisono einer antisemitisch aufheulenden Masse geht. Als Éléazar wirft sich Chris Merritt mutig in diese Partie, ist aber vor allem laut. Jedenfalls doch weit entfernt von der schmerzdurchtränkten, trotzigen Innigkeit, die ein Neil Shicoff in Wien erreichte. Immerhin ragten Liang Li (machtvoll-dunkel als Brogni) und Catriona Smith (als höhensichere, sinnlich auftrumpfende Eudoxie) über das mittelprächtige Ensemble hinaus.

Zum Glück waren Wieler und Morabito auf der Höhe ihres Niveaus. Dabei setzten sie nicht auf die emotionale Überwältigung einer Opferperspektive, sondern auf eine differenzierte Zeichnung aller Beteiligten. Auch der Kardinal trägt hier, ganz wörtlich, seine Narben unter dem Gewand. Das Regieduo bewältigt vor allem die Aufgabe, gleichzeitig von innen und von außen auf die Geschichte zu blicken. Zwischen dem von Bert Neumann erkennbar als Kulisse auf die Drehbühne platzierten Kirchenportal und dem Goldschmiede-Fachwerkhaus gibt es die gescheiterte Liebe der Jüdin Rachel (kraftvoll: Tatiana Pechnikova) zum verheirateten Reichsgrafen Leopold (mit erkämpfter Höhe: Ferdinand von Bothmer) und den historischen Fall von Antisemitismus aus dem Konstanz des 15. Jahrhunderts.

Religiöse Intoleranz

Dabei sind die Kulissen und die zwischen Gegenwart und Geschichte changierenden Kostüme (Nina von Mechnow) so durchlässig, dass das Beklemmende der wie auf Stichwort abrufbaren (religiösen) Intoleranz ohne vordergründige Aktualisierung zu einem exemplarischen Fall für die Manipulierbarkeit der Masse wird. Wenn sich Leopold und Rachel offen lieben, bedeutet das in den Augen der Exponenten der Religionen den Tod und wird, aus dem historischen Kontext gelöst, zum Verweis auf die verquere Gefahr, der sich heute junge Frauen in konservierten Werteexklaven parallel zur modernen Zivilgesellschaft immer noch aussetzen. Nachdenktheater gibt es aber auch da, wo der antisemitische Mob, der den Vater und die Tochter tot sehen will, in den Masken des Klischees auftritt: Kindermord und Geldgier spielend, wippend betend.

Ganz am Anfang, als das noch ziemlich brave Volk einen gerade errungen Sieg bejubelt und sich "nur" darüber empört, dass der an sich ja angesehene Goldschmied den christlichen Feiertagseifer nicht teilt und weiterarbeitet und einige Choristen zum Jubel auch schon mal den rechten Arm ausstreckten – da wurden sie immer wieder von ihren Kollegen nach dem Motto, dass so etwas doch hier und heute nicht mehr geht, korrigiert. Diese Hypothese zur Kunst, dass etwas nicht geht, verwerfen Wieler und Morabito jedoch am Ende. Nicht etwa, weil Éléazar seine Tochter und sich erschießt, also der tödlichen Zwangstaufe im kochenden Wasser souverän zuvorkommt. Sondern vor allem mit diesem mit Maske und Spiel verfremdeten Mob. Und insgesamt durch ihre durchdachte Inszenierung, die ihre Zuschauer fordert! (Joachim Lange aus Stuttgart/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26. 3. 2008)